Rückblick

Gesundheitsfonds und Morbi-RSA: Mega-Reform Wettbewerbsstärkungsgesetz

Es war ein schwieriger Kompromiss, der teils energischen Protest hervorrief: das Wettbewerbsstärkungsgesetz 2007 mit dem Gesundheitsfonds und dem Morbi-RSA. Das letzte große Reformwerk von Ulla Schmidt leitete einen Paradigmenwechsel zur morbiditätsorientierten Ausgabenpolitik ein.

Von Helmut Laschet Veröffentlicht:
Für Kanzlerin Angela Merkel war Ulla Schmidt (SPD) nach eigenem Bekenntnis „die schwierigste Ministerin“.

Reformfreudig und durchsetzungsstark: Ulla Schmidt (SPD). Für Kanzlerin Angela Merkel war sie nach eigenem Bekenntnis „die schwierigste Ministerin“.

© Klaus-Dietmar Gabbert / picture-alliance / dpa

Die erste Große Koalition unter Angela Merkel startete im Herbst 2005 mit einem offenen Dissens: Die Herausforderung, die Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens durch stabile Finanzstrukturen zu sichern war Konsens – aber „die Parteien haben hierzu unterschiedliche Konzepte entwickelt, die sich nicht ohne weiteres miteinander vereinbaren lassen“, hieß es im Koalitionsvertrag.

Man einigte sich darauf, „im Laufe des Jahres 2006“ eine Lösung zu entwickeln. Dabei wurde die Koexistenz von GKV und PKV anerkannt – und damit deutete sich schon das Scheitern des Projekts „Bürgerversicherung“ der SPD an. Die Lösung, die dann im ersten Halbjahr gefunden wurde, kam nicht aus dem Gesundheitsministerium, sondern basierte auf einer Idee des Dortmunder Finanzwissenschaftlers Professor Wolfram Richter.

Die wiederum wurde vom Wissenschaftlichen Beirat des Bundesfinanzministeriums aufgegriffen und gelangte so in den politischen Diskussionsprozess, der schließlich mit einem am 4. Juli 2006 von der Koalition beschlossenen Eckpunktepapier zur grundsätzlichen Einigung führte.

Ende der rigiden Budgetierung

Gesundheitsfonds und Morbi-RSA sowie darüber hinaus die Reform des Versicherungsvertragsgesetzes für die Private Krankenversicherung waren zwar die zentralen Bestandteile des Wettbewerbsstärkungsgesetzes (WSG).

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Verbunden mit der Reform waren aber auch Elemente, deren Tragweite und Bedeutung zunächst gar nicht erkannt wurden: die Abkehr vom Grundsatz der Beitragssatzstabilität und damit die Morbiditätsorientierung für die ärztliche Vergütung, die Organisationsreform der Kassen inklusive eines neuen Insolvenzrechts sowie eine erneute Reform des Gemeinsamen Bundesausschusses.

Als das Gesundheitsministerium im Herbst 2006 den Verbänden einen ersten Referentenentwurf mit einer kurzfristigen Einladung zur Anhörung zuleitete, entstand ein Sturm der Entrüstung: 550 Seiten umfasste das Gesetzeskonvolut einschließlich Begründung – ein kaum verdauliches Paket, das bis kurz vor Verabschiedung durch Bundestag und Bundesrat im Februar 2007 mitunter am seidenen Faden hing.

Hürdenlauf im Parlament

Allein rund hundert Änderungsanträge hatte der Bundesrat eingebracht, am Ende erhielt das Gesetz von 378 Abgeordneten die Zustimmung – etliche Abgeordnete der Koalition verweigerten ihr Plazet. Dennoch, so befand Gesundheitsministerin Ulla Schmidt, sei das „eine gute Mehrheit – ich bin damit zufrieden“.

Mit der Realisierung des Gesundheitsfonds und des Morbi-RSA hatte der Gesetzgeber den Kassen und dem Bundesversicherungsamt bis 2009 Zeit gegeben – aber noch wenige Monate vor dem Start liefen konsternierte Kassenfunktionäre durch das politische Berlin und forderten wie der damalige DAK-Chef Herbert Rebscher einen Simulationslauf fürs erste Jahr.

Tatsächlich funktionierte die neue Finanzierungssystematik vom Start an ziemlich reibungslos:

  • Für das Jahr 2009 hatte die Bundesregierung den allgemeinen Beitragssatz auf insgesamt durchschnittlich 15,5 Prozent festgesetzt.
  • Der Arbeitgeberbeitrag wurde auf 7,3 Prozent gesetzlich eingefroren; damit waren Gesundheitsausgaben und Arbeitskosten entkoppelt.
  • Der Versichertenanteil belief sich auf 7,3 Prozent zuzüglich 0,9 Prozent Sonderbeitrag, der nur von den Versicherten gezahlt wurde und den die Kassen individuell nach ihrer jeweiligen Finanzsituation festlegten.
  • Die Beitragseinnahmen der Kassen flossen zunächst an den Gesundheitsfonds. Zusätzlich sollte der Gesundheitsfonds durch Steuermittel gespeist werden, um auf diese Weise gesamtgesellschaftliche Aufgaben der Krankenkassen, etwa die Gesundheitsversorgung von Kindern oder familienpolitisch intendierte Leistungen zu finanzieren.
  • Der Gesundheitsfonds beim BVA seinerseits organisierte den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich. Wurden bisher lediglich Alter und Geschlecht beim RSA als Morbiditätsmerkmale berücksichtigt, so traten nun rund 80 schwere, chronische und überdurchschnittlich kostenintensive Krankheiten mit ihren jeweiligen standardisierten Ausgaben als Kriterium für die kassenindividuellen Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds hinzu. Nicht berücksichtigt wurden allerdings seltene Hochkostenfälle, etwa durch seltene Krankheiten, was vor dem Hintergrund der Innovationsdynamik in manchen Teilen der Medizin für Diskussionen sorgte.

Stabilität in Krisenzeiten

Schon 2009 – als es infolge der Finanzkrise zu einem dramatischen Konjunktureinbruch mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts von mehr als fünf Prozent kam – erwies sich die neue Finanzierungssystematik als hilfreich: Über den Gesundheitsfonds pumpte der Finanzminister damals mehr als sechs Milliarden Euro in das Kassensystem. Zusammen mit den anderen Sozialversicherungen wirkte dies enorm stabilisierend.

Aber auch während der aktuellen Corona-Pandemie hat sich der Gesundheitsfonds bewährt – freilich auch deshalb, weil in den Jahren zuvor eine Milliarden-Liquidität aufgebaut worden ist.

Das Wettbewerbsstärkungsgesetz

  • Umfassende Reform der Finanzierung und Organisation der GKV: Gesundheitsfonds und Morbi-RSA
  • Paradigmenwechsel von der einnahmen- zur morbiditätsorientierten Ausgabenpolitik, Euro-Gebührenordnung für Ärzte.
  • Soziales Korsett und mehr Wettbewerb für die PKV.
  • Mehr Leistungen: Vater-/Mutter-Kind-Kuren, Impfschutz entsprechend STIKO-Empfehlung, spezialisierte ambulante Palliativversorgung, ambulante Reha auch zu Hause und in Pflegeeinrichtungen.

Das Wettbewerbsstärkungsgesetz war die Krönung von Ulla Schmidts Amtszeit als Gesundheitsministerin. In der Debatte zur Verabschiedung des Gesetzes hob sie die Vorteile für die Ärzte hervor: eine transparente Gebührenordnung, die Stärkung der hausärztlichen Versorgung und finanzielle Anreize zur Niederlassung.

Der Reformprozess, den Schmidt als Gesundheitsministerin eingeleitet hatte, nützte ihrer Partei freilich wenig: Die SPD stürzte bei der Wahl 2009 von 34,2 auf 23 Prozent ab – und ging in die Opposition.

Bei ihrer Verabschiedung bekam Ulla Schmidt ein nicht ganz untypisches Kompliment von Bundeskanzlerin Angela Merkel: „Sie war meine schwierigste Ministerin.“

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