Großbritannien

NHS könnte die Unterhauswahl entscheiden

Im Wahlkampf versprechen Tories wie Labour, Milliarden in den staatlichen Gesundheitsdienst zu pumpen. Der könnte es brauchen.

Arndt StrieglerVon Arndt Striegler Veröffentlicht:
Heizt den Wahlkampf an in Großbritannien :Allein im Oktober mussten laut Gesundheitsministerium rund 80.000 Notfallpatienten in Notbetten untergebracht werden, weil Platz auf den Stationen fehlte.

Heizt den Wahlkampf an in Großbritannien :Allein im Oktober mussten laut Gesundheitsministerium rund 80.000 Notfallpatienten in Notbetten untergebracht werden, weil Platz auf den Stationen fehlte.

© Melinda Nagy / stock.adobe.com

London. In Großbritannien ist Wahlkampf – wieder einmal. Dreieinhalb Jahre sind seit dem Brexit-Referendum nun vergangen und das Land kommt politisch nicht zur Ruhe.

Was die am 12. Dezember anstehende Unterhauswahl besonders und in gewisser Weise historisch macht, ist nicht nur die Tatsache, dass es dabei um die Zukunft des Landes außerhalb (oder innerhalb) der EU geht. Fast ebenso wichtig wie das Thema Brexit ist die Gesundheitspolitik.

Der Wahlkampf war nur wenige Stunden alt und alle großen Parteien – Tories, Labour und Liberale – reklamierten für sich, die einzige Partei zu sein, die die Nöte und Sorgen von Ärzten und Patienten ernst nehmen.

Labour verspricht im Falle eines Wahlsiegs, Milliarden zusätzlich in den staatlichen Gesundheitsdienst NHS (National Health Service) zu investieren. Zudem warf Labour-Chef Jeremy Corbyn der Regierung Johnson vor, den NHS „an Donald Trump verkaufen“ zu wollen.

83,6 Prozent aller britischen Notfallpatienten werden innerhalb der vom Gesundheitsministerium als Ziel vorgegebenen Zeitspanne von vier Stunden behandelt – der schlechteste Wert seit 20 Jahren.

Corbyn sagte, es habe bereits erste Gespräche gegeben zwischen britischen Kliniken und Gesundheitsverwaltungen mit privaten amerikanischen Konzernen.

Trump interessiert am NHS

Downing Street bestreitet zwar, dass im Falle eines Wahlsiegs der regierenden Konservativen Kliniken und Arztpraxen quasi scheibchenweise privatisiert und an private Betreiber aus dem In- und Ausland verkauft werden sollen.

Ein Regierungssprecher bestätigte jedoch, dass es in der Tat „erste“ Gespräche zwischen der Regierung und US-Unternehmen gab. Über den genauen Inhalt dieser Gespräche wollte die Regierung nichts sagen.

US-Präsident Trump hatte in der Vergangenheit mehrfach sein Interesse an Teilen des NHS bekundet und im Gegenzug ein großzügiges Freihandelsabkommen nach dem Brexit in Aussage gestellt.

Die britischen Wähler reagieren freilich geradezu allergisch auf solche Andeutungen. „Unser Gesundheitsdienst ist der Stolz der Nation und den meisten Briten heilig“, sagte der Londoner Klinikarzt Dr. Al Teague der „Ärzte Zeitung“. Und: „Wer diese Wahl gewinnen will, muss versprechen, den NHS zu erhalten und weiter gut zu behandeln.“

NHS leidet unter Sparmaßnahmen

Die Regierung von Premierminister Boris Johnson sagt ebenfalls Milliardeninvestitionen für den staatlichen Gesundheitsdienst zu. Ob staatliche Primärmedizin, der stationäre Sektor oder ambulante Versorgungsangebote – beide große Parteien versprechen, ein wahres Füllhorn über dem NHS ausschütten zu wollen.

Das freut die Ärzteschaft und Patienten. Immerhin litt der NHS in den vergangenen Jahren trotz aller Beteuerungen der Londoner Regierung ebenso unter der restriktiven Haushaltspolitik wie viele andere öffentliche Sektoren.

Die dritte große Volkspartei, die Liberalen, halten sich mit großmundigen Versprechungen zum Gesundheitsetat deutlich zurück. Die Partei kündigte im Fall eines Wahlsieges zwar an, den Gesundheitsdienst nicht stiefmütterlich behandeln zu wollen und die Ausgaben zumindest so weit zu erhöhen, dass mit der Inflation Schritt gehalten wird.

Was die Liberalen aber von Tories und Labour am deutlichsten unterscheidet, ist die klare Aussage, man werde den Brexit nicht vollziehen und stattdessen weiter EU-Mitglied bleiben wollen.

Dieser Wahlkampf fällt in eine Zeit, in der der NHS unter großem Druck steht. Zum einen nehmen die Erkrankungszahlen und Einweisungen zu Beginn des Winters erfahrungsgemäß immer deutlich zu.

Einige Kliniken und Praxen berichten über 30 Prozent mehr Patienten zu dieser Jahreszeit. Zum anderen herrschen bereits jetzt besonders in den Notaufnahmen der staatlichen Kliniken teils chaotische Zustände.

Patienten in den Gängen

Patienten warten bis zu zwölf Stunden auf Notbetten in den Gängen auf eine erste fachärztliche Konsultation. Allein im Oktober mussten laut Gesundheitsministerium rund 80.000 Notfallpatienten in Notbetten untergebracht werden, weil Platz auf den Stationen fehlte.

In seltenen Fällen sterben Patienten sogar, bevor sich ein Arzt um sie kümmern kann. Derartige Extremfälle werden im Wahlkampf dann gerne von den Medien aufgegriffen, was die aggressive Wahlkampfstimmung weiter anheizt.

Dass es sich bei den schlimmen Versorgungsengpässen gerade in der Notfallmedizin aber nicht um eine Erfindung von regierungskritischen Journalisten handelt, beweisen die jüngsten NHS-Statistiken.

Lediglich 83,6 Prozent aller Notfallpatienten werden derzeit innerhalb der vom Londoner Gesundheitsministerium als Ziel vorgegebenen Zeitspanne von vier Stunden behandelt. Das sind die schlechtesten Zahlen seit Einführung dieser Statistik vor rund 20 Jahren.

Der Ausgang der Wahl ist völlig offen. Derzeit führen die regierenden Tories deutlich vor Labour und den Liberalen. Die Grünen, die in vielen anderen westlichen Ländern mehr und mehr Zulauf finden, liegen im Königreich weit abgeschlagen hinten.

Politische Beobachter sagen, neben dem Brexit werden es die Gesundheitspolitik und die Zukunft der staatlichen Gesundheitsversorgung sein, die den Ausgang dieser Schicksalswahl bestimmen.

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