Immer wieder Gewalt in der Pflege

Im öffentlichen Bewusstsein kommt das Thema Gewalt in der Pflege fast nur in Sensations-Meldungen vor. Die Realität sieht allerdings anders aus. Der Tatort ist nicht selten das Zuhause des Pflegebedürftigen, die Täter sind zuweilen engste Angehörige.

Angela MisslbeckVon Angela Misslbeck Veröffentlicht:
Hilfloser alter Mensch - der Willkür von Menschen ausgeliefert? Die Debatte um Gewalt nimmt kein Ende.

Hilfloser alter Mensch - der Willkür von Menschen ausgeliefert? Die Debatte um Gewalt nimmt kein Ende.

© Warmuth/dpa

BERLIN. "Pflegebedürftige Mutter misshandelt", "Patientin im Heim vernachlässigt", "Mordserie im Krankenhaus" - Gewalt gegen alte und pflegebedürftige Menschen kommt im öffentlichen Bewusstsein fast nur in Sensations-Meldungen vor.

Kaum ist die Erschütterung über die Schlagzeile verflogen, sehen alle schnell wieder weg. Das kritisiert die Bundesarbeitsgemeinschaft der Krisentelefone, Beratungs- und Beschwerdestellen für alte Menschen in Deutschland (BAG).

Ein alltägliches Phänomen

Dabei ist Gewalt gegen Alte schon fast alltäglich. Mehr als die Hälfte aller Menschen über 60 Jahre werden laut BAG Opfer von Vermögens- Gewalt- oder Sexualstraftaten.

Wie groß das Ausmaß der Straftaten im Detail ist und was zur Vorbeugung unternommen wird, zeigt Professor Thomas Görgen, Leiter des Fachgebiets Kriminologie und interdisziplinäre Kriminalprävention der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster beim Hauptstadtkongress.

Der Tatort ist häufig das Zuhause, die Täter nicht selten Verwandte, und oft genug Täter wider Willen. Darauf verweist der Bonner Gerontopsychiater Professor Rolf Dieter Hirsch. 53 Prozent der pflegenden Angehörigen geben laut Hirsch an, dass sie selbst innerhalb eines Jahres gewalttätig gegenüber Pflegebedürftigen wurden.

"Auch wenn Gewalt innerhalb einer Pflegebeziehung in der Familie nicht selten eine lange Vorgeschichte hat, beobachten wir viel häufiger, dass trotz guter Absichten Grenzen in der häuslichen und familiären Pflege erreicht werden", sagt Hirsch.

Unwissenheit, Zeitmangel, Erschöpfung und Überforderung macht der Gerontopsychiater für Gewalt in der häuslichen Pflege verantwortlich.

Körperliche Beschwerden bei jedem zweiten Pflegenden

Das schlage sich auch gesundheitlich nieder. Mehr als die Hälfte der Pflegenden hat Hirsch zufolge körperliche Beschwerden. Erschöpfung, Gliederschmerzen, Magen- und Herzbeschwerden treten nach seinen Angaben im Vergleich zu nicht pflegenden Personen überdurchschnittlich oft auf.

Ärzte sind besonders gefordert, sich gegen häusliche Gewalt gegen Alte zu engagieren. Diese Auffassung vertritt die Psychoanalytikerin und Professorin für Familien-, Jugendhilfe- und Sozialrecht der Goethe-Universität Frankfurt Professor Gisela Zenz.

"Diejenigen, die Kenntnis und Zugang zu Menschen in häuslicher Pflege haben, müssen sich für eine Verankerung von Prävention und Intervention einsetzen", sagte Zenz der "Ärzte Zeitung".

Sie fordert gesetzliche Regelungen "parallel zu dem, was Familiengerichte für Kinder tun". Dabei sind ihre Vorschläge sehr konkret. Ein solches System dürfe nicht straforientiert, sondern hilfeorientiert sein.

Ärzte erhalten eine zentrale Aufgabe

Ärzte erhalten eine zentrale Aufgabe: Bei Eintritt der Pflegebedürftigkeit sollen sie einmalig mit Einwilligung der Pflegeperson und ihrer Angehörigen eine Beratungsstelle informieren, die dann die Familie aufsucht und berät.

Diesen Vorschlag der Familienrechtlerin unterschrieb zuletzt auch der Landespräventionsrat Hessen. Ihre Forderungen wird Zenz auf dem Hauptstadtkongress im Detail präsentieren.

Doch nicht nur in der häuslichen Pflege kommt es zu Gewalthandlungen. Auch in Pflegeheimen sind die Pflegebedürftigen mitunter Gewaltsituationen ausgesetzt. "Es wird immer noch fixiert, festgebunden oder eingesperrt, Türen werden verschlossen, Gurte und Bettgitter hochgezogen und zu viele Medikamente gegeben", sagt der Gerontopsychiater Hirsch.

Er beobachtet "ein hohes Maß an Arbeitsverdichtung und Überforderung" in der professionellen Pflege. "Starke Reglementierungen und Dokumentationsverpflichtungen" stehen aus seiner Sicht zudem einer wirklich verantwortungsvollen Pflege im Weg.

Dabei ist eines klar: Wer in einer Pflegesituation Gewalt anwendet, tut das meist aus einer empfundenen Notlage heraus.

Nicht nur die alten Menschen selbst, sondern auch ihre pflegenden Angehörigen und professionelle Pflegekräfte brauchen daher Ansprechpartner und Unterstützung, fordert die BAG.

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