Krankes System

Massenproteste gegen die Rotstift-Politik der britischen Regierung

"Rettet unseren NHS!", Keine Privatisierung von Arztpraxen und Kliniken!" – zwei Botschaften von vielen an die britische Regierung, die hunderttausende Demonstranten am Samstag im Königreich auf Transparenten durch die Straßen trugen.

Arndt StrieglerVon Arndt Striegler Veröffentlicht:
Diese Demonstrantin scheint die Schuldigen für die Misere des NHS identifiziert zu haben: die konservative Partei um Theresa May.

Diese Demonstrantin scheint die Schuldigen für die Misere des NHS identifiziert zu haben: die konservative Partei um Theresa May.

© |picture alliance / ZUMAPRESS.com

Es gärt im Königreich: Die landesweiten Proteste richten sich zum einen gegen die aktuelle Sparpolitik der Regierung May. Was zunächst einmal nicht sonderlich überrascht oder wundert – ärztliche Berufsverbände und Gewerkschaften demonstrieren in Großbritannien mit verlässlicher Regelmäßigkeit gegen Rotstift-Politik. Neu ist freilich, dass der staatliche britische Gesundheitsdienst (National Health Service, NHS) seit Monaten schlimmer da steht als jemals zuvor in seiner fast 70-jährigen Geschichte.

 Britische Medien berichten seit Wochen über teils chaotische Zustände in den staatlichen Krankenhäusern. Laut britischem Ärztebund (British Medical Association, BMA) wurden allein seit Jahresbeginn landesweit "mehr als 5000 Operationen gecancelt", weil es an Betten und OP-Kapazitäten fehle. Erschwerend kommt hinzu, dass in diesem Winter die saisonbedingten Erkrankungszahlen deutlich stärker gestiegen sind als sonst.

Recherchen der "Ärzte Zeitung" in großen Londoner Kliniken, darunter dem St. Thomas Hospital im Stadtteil Lambeth, ergaben, dass zum Beispiel Patienten in den Notaufnahmen regelmäßig vier Stunden oder noch länger warten müssen, bis sie einen Arzt zu sehen bekommen. Große Kliniken verfehlen außerdem regelmäßig die vom Londoner Gesundheitsministerium vorgegebenen maximalen Wartezeiten, wie lange es dauern darf zwischen Einlieferung und dem ersten fachärztlichen Kontakt.

Labour-Chef: "Lotterie auf Leben und Tod

Die politische Opposition bezeichnen die Zustände im NHS als "menschenunwürdig" und "skandalös". Labour-Parteichef Jeremy Corbyn sprach am Wochenende vor einer jubelnden Demonstrantenmenge in der Londoner Innenstadt gar von "Dritte Welt-Standard" und einer "Lotterie auf Leben und Tod". Corbyn wirft Premierministerin Theresa May vor, den Gesundheitsdienst angesichts der bevorstehenden Brexit-Verhandlungen mit der EU zu vernachlässigen.

 Es sind schwere Vorwürfe. Und es erklärt, warum am Wochenende hunderttausende Bürger in großen britischen Städten auf die Straße gingen. "Meine Mutter braucht dringend ein neues Hüftgelenk", berichtete die für die Londoner Demo aus Bristol angereiste Penelope Marsden. "Dreimal schon ist die angesetzte Operation in letzter Minute gecancelt worden. Das ist frustrierend."

Das Londoner Gesundheitsministerium wies die Vorwürfe von sich. Man investiere "vier Milliarden Pfund (knapp fünf Milliarden Euro) zusätzlich" in den Gesundheitsdienst, um Engpässe zu beseitigen. Unklar ist, auf welchen Zeitraum sich diese Extra-Investitionen beziehen. Gesundheitsminister Jeremy Hunt konterte und stellte erst kürzlich ein umfangreiches Reformpaket für den NHS vor. Die Reformen seien nötig, damit der NHS "bezahlbar" und "zugänglich für alle" bleibe, so der Minister.

Die BMA und andere ärztliche Berufsverbände sehen die Sache anders. Das von der Regierung unter der Bezeichnung "Sustainability Transformation Plans" (STPs) vorgelegte Reformpaket sei nichts anderes als "ein Ablenkungsmanöver, um die Privatisierung von Gesundheitsleistungen zu kaschieren". Die STP-Pläne beinhalten die Schließung von dutzenden, meist kleinerer Kliniken, die Schließung von Notaufnahmen und das Zusammenlegen von anderen Versorgungsangeboten wie den staatlichen Stroke Units. Die Regierung argumentiert, das so eingesparte Geld werde in ambulanten Versorgungsangebote reinvestiert. Die Ärzteschaft sieht das skeptisch.

BMA-Sprecher: Proteste sind ein Hilfeschrei.

Zahlreiche Redner auf der Londoner Demonstration wiesen darauf hin, dass eines der Probleme für den Gesundheitsdienst die "Dauerkrise im Sozialwesen" Großbritanniens sei. So würden landesweit tausende Krankenhausbetten unnötigerweise belegt, weil die darin untergebrachten Patienten zwar gesund genug seien, um entlassen zu werden, dies aber nicht geschehe, da es an ambulanten Diensten wie häuslicher Pflege und Essen auf Rädern fehle.

Die "Ärzte Zeitung" konnte sich kürzlich beim Besuch in einem großen Londoner Krankenhaus vor Ort von der Misere überzeugen. Auf einer 24-Betten-Station im St. Thomas Hospital waren vier Betten permament von Patienten belegt, die eigentlich nicht ins Krankenhaus gehörten, für die es aber keine passenden ambulanten Versorgungsangebote gab.

Wie prekär die Lage im NHS aktuell, zeigen auch die Bilder aus staatlichen Kliniken, auf denen zu sehen ist, wie dutzende Patienten konstant in Betten auf den Fluren untergebracht sind. "Die Proteste sind ein Hilfeschrei all derer, die den NHS benutzen", so BMA-Sprecher Dr. David Wrigley. Weitere Großdemonstrationendürften schon bald folgen.

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