Der Pflegebedürftigkeitsbegriff dient als Maßstab, in welche Pflegestufe ein Patient kommt. Doch der Begriff gilt als veraltet.

Von Thomas Hommel

Ohne ihn geht in der Pflege so gut wie nichts: Auf Grundlage des Pflegebedürftigkeitsbegriffs stufen die Mitarbeiter des Medizinisches Dienstes der Kassen ein, in welche Pflegestufe ein Mensch mit Hilfebedarf kommt. Davon wiederum hängt ab, welche Leistungen der pflegebedürftige Versicherte aus dem Topf der gesetzlichen Pflegeversicherung erhält.

Die Tage des geltenden Pflegebedürftigkeitsbegriffs aber sind gezählt. Ein neuer Begriff soll und muss her. Und zwar lieber heute als morgen, betonen Pflegeexperten. Der geltende Begriff von Pflegebedürftigkeit, sagen sie, sei ausschließlich "verrichtungsbezogen" und "einseitig somatisch" ausgerichtet.

Vereinfacht gesprochen gehe es bei der Einstufung eines Patienten derzeit nach dem simplen Muster zu: Je weniger ein älterer Mensch selber noch körperlich erledigen kann, umso höher fällt die Pflegestufe aus, in die er anschließend eingruppiert wird.

Die Folge dieses verkürzten Verständnisses von Pflegebedürftigkeit: Patienten, die an kognitiven oder an psychischen Verhaltensauffälligkeiten leiden, werden bislang nur unzureichend von der Pflegeversicherung erfasst, obwohl gerade sie auf Unterstützung angewiesen sind.

Union und SPD haben daher vor vier Jahren einen 32-köpfigen Expertenbeirat beauftragt, einen moderneren, umfassenderen Pflegebegriff zu erarbeiten. 2009 legte das Gremium seinen Abschlussbericht vor.

Danach soll der Grad an individueller Pflegebedürftigkeit anhand von sechs Modulen begutachtet werden. Eingeschätzt werden sollen von den MDK-Mitarbeitern körperliche sowie kognitive und kommunikative Fähigkeiten eines Menschen, der Leistungen der Pflegeversicherung beansprucht. Der unter vielen Pflegekräften wie Pflegebedürftigen so verhassten "Minutenpflege" wäre damit endgültig ein Riegel vorgeschoben.

Den Beitragszahler freilich könnte der erweiterte Pflegebegriff einiges kosten. Im teuersten Szenario, so der Beirat, könnten Zusatzkosten von mehreren Milliarden Euro im Jahr auf die Beitragszahler zukommen.

Ob Gesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) bei der für Ende nächsten Jahres angepeilten Pflegereform auf die Empfehlungen des von seiner Amtsvorgängerin Ulla Schmidt (SPD) einberufenen Pflegebeirats zurückgreifen wird, ist offen. Im Koalitionsvertrag von Union und FDP ist lediglich von "guten Ansätzen" die Rede, die auf ihre Auswirkungen überprüft werden müssten.

3,7 Milliarden Euro

Ein neuer Pflegebegriff mit erweitertem Leistungsanspruch würde erhebliche Zusatzkosten bedeuten. Der 32-köpfige Beirat zur Überprüfung des geltenden Pflegebegriffs hat dazu vier Szenarien errechnet. Das "teuerste" liegt bei etwa 3,7 Milliarden Euro jährlich.

Der Vorsitzende des Beirats, Dr. Jürgen Gohde vom Kuratorium Deutsche Altershilfe, zeigt sich dennoch zuversichtlich. "Die Arbeit des Beirats war nicht umsonst." Minister Rösler wolle sich schon in Kürze mit ihm und den anderen Beiratsmitgliedern zusammensetzen. "Dann werden wir weitersehen." Außer Frage steht für Gohde aber eines. "Nächstes Jahr muss ein neuer Pflegebegriff kommen. Sonst wird das in dieser Legislaturperiode nichts mehr."

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