Soziale Pflegeversicherung

Pflegewissenschaftler kritisiert hohe Eigenbeteiligungen in der Pflege

Heinz Rothgang fordert eine Abkehr von den hohen Eigenbeteiligungen in der Pflege. NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann hält es dagegen für normal, aus dem Vermögen für die Pflege zu zahlen.

Ilse SchlingensiepenVon Ilse Schlingensiepen Veröffentlicht:
Gute Pflege, für viele ist das wegen der steigenden Eigenbeteiligung nur schwer stemmbar. Die Pflegeversicherung sei eingeführt worden, um Altersarmut durch Pflegebedürftigkeit zu verhindern. Das leiste sie heute nicht mehr, kritisiert daher Pflegewissenschaftler Professor Heinz Rothgang. (Motiv mit Fotomodellen)

Gute Pflege, für viele ist das wegen der steigenden Eigenbeteiligung nur schwer stemmbar. Die Pflegeversicherung sei eingeführt worden, um Altersarmut durch Pflegebedürftigkeit zu verhindern. Das leiste sie heute nicht mehr, kritisiert daher Pflegewissenschaftler Professor Heinz Rothgang. (Motiv mit Fotomodellen)

© Alexander Raths / stock.adobe.com

Korschenbroich. Das System der Eigenbeteiligung in Pflegeheimen wertet die Pflege ab, findet der Pflegewissenschaftler Professor Heinz Rothgang. „Wenn jemand mit 80 Jahren ins Krankenhaus kommt, zahlt das selbstverständlich die Krankenkasse. Wenn er ins Pflegeheim kommt, soll er selber zahlen“, sagte Rothgang bei der hybriden Veranstaltung „AOK im Dialog“ der AOK Rheinland/Hamburg am Freitag. „So wird Pflege zum Risiko zweiter Klasse“, sagte Rothgang. Das Thema der Veranstaltung lautete: „Sozialstaat in der Krise? Solidarität leben – Finanzierung sichern“.

Die Pflegeversicherung sei eingeführt worden, um Altersarmut durch Pflegebedürftigkeit zu verhindern. Das leiste sie heute nicht mehr, betonte er. Ein Drittel der Bewohner von Pflegeheimen erhalte Sozialhilfe. „Das können wir so nicht mehr hinnehmen.“

Auch in der ambulanten Pflege spielten Eigenbeteiligungen eine Rolle, sagte er. Sie führten dazu, dass Leistungen nicht in Anspruch genommen werden. „Das wird so nicht wahrgenommen.“

Finanzausgleich zwischen sozialer und privater Pflegeversicherung

Für den Wissenschaftler der Universität Bremen muss die Pflegeversicherung von versicherungsfremden Leistungen entlastet werden, diese müssten über Steuern finanziert werden. Unter dem Stichwort Solidarität sollte man auch die Dualität von gesetzlicher und privater Pflegeversicherung in den Blick nehmen, forderte er. Im Moment gebe es Solidarität jeweils nur innerhalb der beiden Systeme, aber nicht zwischen ihnen. „Das muss dringend geändert werden.“ Ein Weg wäre ein Finanzausgleich.

Der nordrhein-westfälische Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) hält die Eigenbeteiligung für Menschen, die es sich leisten können, dagegen nicht für problematisch. „Es ist völlig normal, dass ich aus meinem Vermögen für Pflege bezahlen muss“, sagte er. „Wir können es nicht für alle gleich machen.“ In den Pflegeheimen werde niemand schlechter versorgt, nur weil er kein Selbstzahler ist.

Klar ist für Laumann, dass man nicht nur an der Beitragsschraube drehen kann, um den steigenden Kosten in der Pflege Rechnung zu tragen. Beitragserhöhungen träfen vor allem Menschen, die unterdurchschnittlich verdienen, sagte er. Allerdings seien auch die Steuermittel im Moment knapp.

„Wer ins System will, muss zu lange warten“

Die größte Herausforderung liegt für ihn ohnehin darin, genügend Personal zu finden, das die Pflegeleistungen sicherstellen kann. In Nordrhein-Westfalen gebe es in fast allen Regionen lange Wartelisten für Pflegebedürftige. „Wer im System ist, wird gut versorgt, wer rein will, muss zu lange warten.“

Durch die Gewissheit, dass man im Bedarfsfall gut versorgt wird, sorgen die soziale Kranken- und Pflegeversicherung dafür, dass die Gesellschaft widerstandsfähig ist, glaubt der Vorstandsvorsitzende der AOK Rheinland/Hamburg Günter Wältermann. „Die Menschen können auf viele Dinge entspannter reagieren.“ Dem werde aber nicht genug Rechnung getragen. „Die Pflege- und die Krankenversicherung kommen in der Priorisierung zu kurz“, kritisierte Wältermann.

Auch der Arbeitgeber-Vertreter Johannes Pöttering, Hauptgeschäftsführer der Landesvereinigung der Unternehmensverbände NRW, sieht die Sozialversicherungen als Basis für den sozialen Frieden. Allerdings wird die Solidarität seiner Meinung nach durch die Leistungsfähigkeit der Gesellschaft begrenzt. „Wir müssen fragen, wo die Balance zwischen Solidarität und Eigenverantwortung ist“, sagte Pöttering.

Viele Menschen können sich nicht an den Kosten beteiligen

Für Verena Bentele, die Präsidentin des Sozialverbands VdK, gehört zu einem Sozialsystem, dass Nachteile kompensiert werden. Das Risiko, pflegebedürftig zu werden, sei ungleich verteilt. Hier einen Ausgleich zu schaffen, sei ein zentrales Element der Sozialversicherung.

Selbstbeteiligungen sieht Bentele kritisch. Nach einer Erhebung des Sparkassen- und Giroverbands hätten 40 Prozent der Bundesbürger überhaupt keine Rücklagen. „Es ist schon ein Mittelstandsproblem geworden, dass Menschen sich nicht an den Kosten beteiligen können“, betonte Bentele.

Sie hält das Zusammenführen von sozialer Pflegeversicherung und privater Pflegepflichtversicherung für einen sinnvollen Schritt. „Die Leistungen sind komplett identisch, aber die Risiken sind anders verteilt“, sagte Bentele. „Eine Zusammenlegung wäre für mich ein großer Akt der Solidarität.“

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