Untersuchung von Zi und BARMER
Steigender Krankenstand: An der Tele-AU liegt es auf jeden Fall nicht
Arbeitgeber und der wirtschaftsliberale Flügel der CDU trommeln für die Abschaffung der Tele-AU. Eine Auswertung des Zi zusammen mit der BARMER zeigt: Der Anteil der Krankmeldungen via Telefon und Videosprechstunde ist verschwindend gering.
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Die Zahl der Telefon-Krankschreibungen ist nach jüngsten Untersuchungen vergleichsweise gering.
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Berlin. Glaubt man Arbeitgeberverbänden und Aussagen von Politikern aus FDP und Teilen der Union, dann ist die Möglichkeit der Krankschreibung per Telefon oder Videosprechstunde der zentrale Treiber für den gestiegenen Krankenstand. Empirische Belege wurden für diese Behauptung bisher nicht beigebracht.
Die BARMER und das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi) haben sich die Datenlage gemeinsam genauer angeschaut. Ergebnis: Der Anteil von Krankschreibungen per Telefon und Video ist nach wie vor randständig – sie kann damit auch kein Motor für den starken Anstieg der AU-Fälle seit 2021 sein.
Bei einer Online-Veranstaltung des Zi präsentierte Dr. Sandra Mangiapane am Mittwoch neue Zahlen. Ein Problem für Wissenschaftler war bisher, dass in den AU-Daten kein spezifisches Zeichen dafür existiert, ob die Krankschreibung per Telefon oder in einer Videosprechstunde erfolgt ist.
Umfrage unter gut 1000 Beschäftigten
Jeder dritte Arbeitnehmer hat bereits Gebrauch von der Tele-AU gemacht
Für die gemeinsame Untersuchung von Zi und BARMER wurden daher die AU-Daten versicherten-, datums- und praxisbezogen mit den vertragsärztlichen Abrechnungsdaten zusammengeführt. Dann wurde geprüft, ob am ersten Tag der AU von derselben Praxis eine telefonische Beratung oder Videosprechstunde abgerechnet wurde.
Nur 1,2 Prozent der Krankmeldungen via Tele-AU
Für die Jahre 2020 bis 2023 kommt Sandra Mangiapane auf einen Anteil der Telefon-AU an allen Krankschreibungen von maximal 1,2 Prozent (2022). Im Jahr darauf war dieser Anteil bereits wieder auf 0,9 Prozent gesunken. Noch marginaler ist der Anteil der Videosprechstunden: 0,4 Prozent aller AU-Bescheinigungen entfielen zuletzt darauf.
Ein ähnlicher Befund ergibt sich, wenn untersucht wird, wie hoch der Anteil von AU-Bescheinigungen via Telefon/Video an allen telefonischen Beratungen oder Videosprechstunden gewesen ist. Im Jahr 2023 bezogen sich 11,7 Prozent aller Telefonkonsultationen auf eine Krankmeldung, bei der Videosprechstunde galt dies für 11,2 Prozent.
Beide Befunde, resümiert Sandra Mangiapane, sprechen gegen die Hypothese der Arbeitgeber. Es müsse also andere Treiber des gestiegenen Krankenstands geben. Sie erinnerte daran, dass 2022 57 Prozent der Erst-AU-Fälle auf akute Infektionen der oberen Atemwege oder auf COVID-19-Fälle zurückgegangen sind.
Außer dem stärkeren postpandemischen Infektionsgeschehen gebe es einen weiteren plausiblen Grund für die Zunahme der Krankmeldungen, so Mangiapane. Man müsse davon ausgehen, dass vor der Umstellung auf das elektronische Verfahren im Jahr 2022 Versicherte bei kurzzeitiger AU die Bescheinigung nicht in allen Fällen an ihre Krankenkasse übermittelt haben.
Im Ergebnis, so das Zi, sei es zu einem künstlichen Erhöhungseffekt der AU-Zahlen gekommen. Das IGES-Institut vertritt in einer Studie die Auffassung, dass etwa 60 Prozent der zusätzlichen Fehltage auf diesen Meldeeffekt zurückgeführt werden können.
2025 erstmals wieder sinkende AU-Zahlen?
Im laufenden Jahr könnte es erstmals wieder zu einer Trendwende bei den AU-Zahlen kommen, erläuterte die Leiterin des Referats Grundsatzfragen im Zi: Wurden im Jahr 2023 noch rund 116,6 Millionen AU ausgestellt, so waren es im Vorjahr bereits 125,1 Millionen, ein Anstieg um 7,3 Prozent. In diesem Jahr, Stichtag 29. September, waren es bisher etwa 82,5 Millionen Krankmeldungen. Damit deuten sich für das Gesamtjahr niedrigere Zahlen als 2024 an – es sei denn, es kommt noch zu einer starken Infektwelle im vierten Quartal.
Dr. Susanne Wagenmann von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände machte in der Diskussion deutlich, dass die Arbeitgeberseite dennoch Reformbedarf sehe. Eigentlich schreibe das Entgeltfortzahlungs-Gesetz eine AU ab dem ersten Fehltag vor. Aufgrund tarifvertraglicher Regelungen gelte das aber nur noch für jeden vierten Arbeitnehmer. Sie forderte, der „Goldstandard der Krankschreibung“ müsse weiterhin der persönliche Arzt-Patientenkontakt bleiben – der wahlweise durch eine ärztliche Videosprechstunde ergänzt werden könne.
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Die Leiterin der Abteilung Soziale Sicherung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände sprach sich hingegen für eine Abschaffung der Telefon-AU aus – diese werde „nicht immer verantwortungsvoll genutzt“, so Wagenmann. Arbeitgeber, so ihre Position, müssten auf den hohen Beweiswert der AU vertrauen können.
Hausarzt: Verhinderung von Infekt-Ketten wichtig
Dagegen ist für den Hausarzt Dr. Eckart Lummert, Mitglied der Vertreterversammlung der KV Niedersachsen, die Telefon-AU „ein absoluter Erfolg“. Es sei ein großer Vorteil, dass durch dieses Instrument Infekt-Ketten verhindert werden können. Er verwies darauf, dass die große Mehrheit der Patientinnen und Patienten in den Hausarztpraxen persönlich bekannt sei. Das gegenseitige Vertrauensverhältnis verhindere den Missbrauch der Tele-AU, so Lummerts Position.
Für den BKK-Dachverband forderte deren Vorständin Anne-Kathrin Klemm, es müsse Transparenz über die Ursachen der gestiegenen AU-Zahlen geschaffen werden. Sie verwies darauf, dass 36 Prozent der AU-Fälle sich auf maximal drei Fehltage erstrecken.
Die Telefon-AU könne Arztpraxen und Personal sinnvoll entlasten. Im Übrigen, so Klemm, hätten die Arbeitgeber wichtige Stellhebel für den Krankenstand in der Hand: Dort, wo ein gutes Betriebsklima herrsche, sei in der Regel auch der Krankenstand vergleichsweise gering. (fst)