Schul- und Alternativmedizin

Gegner, aber keine Feinde mehr

Feinbild Alternativ­medizin, Feindbild Schulmedizin - die Zeiten haben sich geändert. Der Bamberger Soziologe Gerhard Schulze meint: Die starren Fronten werden durchlässiger.

Dirk SchnackVon Dirk Schnack Veröffentlicht:
Soziologe Schulze: "Wir sind Zeugen einen Entmythologisierung."

Soziologe Schulze: "Wir sind Zeugen einen Entmythologisierung."

© Stephan Gabriel

Daten, Beobachtungen und Messreihen statt Spekulation, Wunschdenken und Intuition: Damit ist die Wissenschaft der Wahrheit auf der Spur.

"Aber geht das überhaupt? Müssen Fakten nicht auch konstruiert und interpretiert werden", fragte Professor Gerhard Schulze von der Universität Bamberg zum Auftakt des Debattengipfels Naturmedizin.

Bietet nicht auch die Wissenschaft Schlupflöcher für Subjektives? Noch vor 50 Jahren, so Schulze, wäre es kaum jemand in den Sinn gekommen, solche Fragen zu stellen. Wissenschaft wurde damals gleichgesetzt mit völliger Unterwerfung unter die Regeln objektiver Erkenntnis.

Und heute? "Mit der allgemeinen Wissenschaftsgläubigkeit ist es heute vorbei und wenn es um die Gesundheit geht, spürt man dies am eigenen Leib."

Schulze sprach in Hamburg von einer "post-euphorischen Phase", in die das öffentliche Ansehen der Medizin eingetreten sei.

Der Soziologe verwies in diesem Zusammenhang auf Patienten, die nicht mehr ohne Zweitmeinungen auskommen, sich zusätzliche Informationen im Internet und Rat bei Apothekern und Heilpraktikern holen.

Das Nebeneinander von Schul- und Alternativmedizin, das dogmatische Ablehnen der anderen Seite ist für ihn eine Phase der Medizingeschichte, die zu Ende geht. Dies bedeutet für ihn Debatte, bei der sich zwar Gegner, aber keine Feinde gegenüber stehen.

Schulze skizzierte zwei Mythen: den von der allheilenden Mutter Natur und den von der allwissenden Wissenschaft. Bei der Mythologisierung der Natur erkennt er drei Schlupflöcher:

›Begründungsverweigerung: "Natur ist per se gut, basta. Wozu objektive, kontrollierbare Wirksamkeitsnachweise?"

Wissensstillstand: "Wozu am Fortschritt arbeiten, wenn wir doch schon im Besitz der Wahrheit sind?"

Dämonisierung der Moderne "mit ihren immer weiter vom Ursprünglichen distanzierten Konstruktionen, mit ihrer Medizintechnik, ihrer Industrie."

Für Schulze rätselhaft: "Die Alternativmedizin ist in keiner Weise auf Mythen angewiesen, aber sie sind populär. Warum halten sie sich so hartnäckig?"

Denn ihre Kritik laufe nicht auf Ablehnung der Naturheilverfahren hinaus, sondern auf ihre Absicherung. Einen Teil der Antwort vermutet er in der wechselseitigen Befehdung mit konstruierten Feindbildern.

Apparatemedizin und Quacksalberei

Zur anderen Seite, der Schulmedizin. Sie kann gar nicht so lupenrein sein, wie sie gern wäre, denn: "Da sind Menschen am Werk, keine Heiligen, und da melden sich Eigeninteressen von Institutionen, Professionen und Unternehmen zu Wort." Schulze nannte drei philosophische Sollbruchstellen:

Es hat sich ein naiver Wahrheitsbegriff durchgesetzt, obwohl die Arbeit an komplexen Theorien in der Wissenschaft nur den Charakter einer Annäherung an die Wahrheit haben kann.

Jede Theorie habe blinde Flecken und begrenzte Reichweite. "Wer dies vergisst, wird zum Esoteriker im Gewand der harten Wissenschaft."

Fehlendes Bewusstsein für die Erkenntnis steuernde Wirkung von Voreinstellungen. Ein Beispiel: Normalitätsdefinitionen in der Diagnostik, die nicht mehr als zweckmäßige, aber in ihrer Aussagekraft begrenzte statistische Konstruktionen sind.

›Der Evidenzbegriff: es sei ein Fehlschluss, dass die objektive Wahrheit aus statistischen Modellen spricht und in nichtmathematisierbarem Material wie Erzählungen oder Lebensumständen schweigt.

Das Problem: Man sieht immer nur die Mythen der anderen. Dazu passt ein Vokabular wechselseitiger Ächtung wie "Apparatemedizin" einerseits und "Quacksalberei" andererseits.

Für Schulze steht fest: "Falsifizierbarkeit, Messbarkeit und Reproduzierbarkeit haben die Medizin in den Jahrhunderten ihrer Forschungsgeschichte zwar immer intelligenter gemacht, aber die Verbannung von allem Wissen, das diesen Kriterien nicht genügt, würde auf medizinische Selbstverdummung hinauslaufen."

Denn erstens haben auch kognitive, emotionale und soziale Phänomene medizinische Relevanz, obwohl sie sich dem streng naturwissenschaftlichen Zugriff entziehen. Zweitens hat die private Lebensführung maßgeblichen Einfluss auf Gesundheit, Krankheit und Heilung.

Drittens ist jeder Mensch singulär: "Ein Teil von uns lässt sich mit naturwissenschaftlicher Standardisierung und verallgemeinerndem Gesetzeswissen modellieren, ein anderer Teil erfordert individualisierende Kasuistik."

Für Schulze steht fest: "Bewusstsein, Lebensumstände und Singularität sind heilberuflich relevante Tatbestände, an die man mit objektiven Methoden und einem engen Verständnis von Evidenz nicht herankommt."

Er sieht aber trotzdem viele Anzeichen dafür, dass wir uns auf ein Zeitalter integrativen Denkens zu bewegen - die Redner auf dem Debattengipfel bewiesen es anschließend.

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