Schmerzen bei Psychose haben oft eigene Ursache

Ein Fall aus der Schmerzpraxis von Dr. Dietrich Jungck, Hamburg, Präsident des Verbandes Deutscher Ärzte für Algesiologie: Herr B. , 56 Jahre, wird zu uns überwiesen, weil er heftige Schmerzen hat. Diese breiten sich zunehmend aus und behindern ihn in seinen körperlichen und sozialen Aktivitäten und beim Schlafen stark. Und auch die wegen schwerer Depression, Zwangsstörung und Angsterkrankung nötige psychiatrische Behandlung ist nur eingeschränkt möglich, da Herr B. nur kurze Zeit ohne Schmerzzunahme sitzen oder liegen kann.

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Wenn auch Sie eine interessante Kasuistik zum Thema Schmerztherapie haben, schreiben Sie uns Ihren Fall. Oder haben Sie einen besonders kniffligen Schmerzpatienten? Schildern Sie die Problematik! Wir werden sie an unsere Experten weiterleiten. Schreiben Sie an: Ärzte Zeitung, Ressort Medizin, Postfach 20 02 51, 63077 Offenbach oder per Email an: med@aerztezeitung.de

  • Die aktuelle Situation:

Die Vorbefunde zeigen, daß erhebliche degenerative Veränderungen der gesamten Wirbelsäule vorliegen, Forameneinengungen in verschiedenen Bereichen, außerdem eine hochgradige Osteoporose. Im Körperschema werden die Schmerzen multiregional eingezeichnet.

Die Topographie stimmt mit den radiologischen Veränderungen weitgehend überein. Bei der körperlichen Untersuchung ist die Beweglichkeit im Bereich der gesamten Wirbelsäule fast aufgehoben. Es finden sich viele latente und aktive muskulofasziale Triggerpunkte. Die Muskulatur ist sehr angespannt.

Der Patient beschreibt seine Schmerzen hauptsächlich als schneidend, reißend, pochend, stechend, quälend, marternd, entnervend. In der Schmerzempfindungsskala erreicht er mit 40 Punkten für die affektiven Adjektive gerade noch unauffällige Werte.

Die subjektive Behinderungseinschätzung (Pain Disability Index) ist mit 34 Punkten ebenfalls unauffällig. Pathologisch ist der auf der allgemeinen Depressionsskala erreichte Wert von 38 Punkten.

Die Schmerzintensität wird unter der bisherigen Medikation mit bis 7 auf der 10 cm betragenden visuellen Analogskala (VAS) angegeben.

  • Wie ist es zu dieser Situation gekommen?

Bereits seit dem 16. Lebensjahr sind bei Herrn B. Rückenschmerzen bekannt, die mit der Zeit stärker und häufiger geworden sind. Mehrere ambulante und stationäre Behandlungen, auch Reha-Maßnahmen, brachten keinen Erfolg. Er kann daher schon lange nicht mehr in seinem Beruf als Fliesenleger arbeiten.

Wegen der Rückenschmerzen und der psychischen Störungen, die vor einigen Jahren aufgetreten sind, ist er inzwischen schwerbehindert (GdB 70). Gegen die Schmerzen nimmt er täglich mehrmals je 500 mg Paracetamol, 200 mg Diclofenac und 20 mg Omeprazol, zudem ein Bisphosphonat (Risedronsäure). Als Antidepressivum erhält er Moclobemid. Doch die Schmerzen lassen sich damit nicht ausreichend lindern.

  • Was ist nun zu tun?

Unter den hauptsächlichen Diagnosen chronische Schmerzkrankheit, schwere degenerative WS-Veränderungen, algogenes Psychosyndrom und psychiatrische Komorbidität mit Major Depression, Angst- und Panikstörung klären wir Herrn B. zunächst über Zusammenhänge zwischen psychischen/psychiatrischen und somatischen Anteilen der Schmerzen auf.

Dann raten wir zu einer transcutanen elektrischen Nervenstimulation. Die TENS-Therapie erfolgt mit einem individuell programmierten Gerät als lokoregionale Stimulation im H- und LWS-Bereich. So werden Bildung und Ausschüttung schmerzhemmender Neurotransmitter und durchblutungsfördernder Substanzen gefördert. Die Übertragung von Schmerzimpulsen wird gehemmt und es kommt zur Muskelentspannung. Durch die Selbstanwendung lernt der Patient, wieder für sich aktiv zu werden und Verantwortung mit zu übernehmen. Das gilt auch für das Erlernen von Entspannungsübungen mit Musikunterstützung.

Die NSAR werden, da sie nicht wirksam sind, abgesetzt, ebenso das Omeprazol. Stattdessen verordnen wir ein starkes Opioid. Da wegen der psychiatrischen Erkrankung Compliance-Probleme bei der Medikamenteneinnahme zu befürchten sind, wird transdermales Buprenorphin (Transtec®) mit zunächst 17,5 µg/h (1/2 Pflaster à 35 µg/h) verordnet. Das Pflaster soll alle drei Tage zur gleichen Uhrzeit gewechselt werden. Das halbe Pflaster wird gut vertragen und bringt eine erste leichte Linderung, so daß wir - unter Kontrolle mit Schmerz-Tagebüchern - die Dosis allmählich bis auf 52 µg/h steigern.

Unter dieser Behandlung ist der Patient sehr zufrieden. Er geht wieder spazieren, nimmt Kontakt zu früheren Freunden auf, besucht mit seiner Ehefrau wieder Ausstellungen und reaktiviert frühere Hobbys.

Die Schmerzintensität wird nun mit zwischen 3 und 5 VAS angegeben - je nach körperlicher Aktivität. Der Schlaf ist wieder ausreichend und erholsam. Auch die psychische Verfassung bessert sich. Die frühere Verbitterung ist nicht mehr feststellbar.



FAZIT

Klagen Patienten mit psychiatrischen Krankheiten über Schmerzen, darf nicht vorschnell von einer rein psychogenen Ursache ausgegangen werden. Denn auch eine adäquate psychiatrische Behandlung schützt nicht vor der Entwicklung einer chronischen Schmerzkrankheit als Begleiterkrankung. Gerade bei zunehmender Schmerzintensität ist eine genaue Schmerzanalyse und gegebenenfalls eine zusätzliche Schmerztherapie nötig. In diesem Fall waren dazu aufgrund der starken und bereits chronifizierten Schmerzen Opioide der WHO-Stufe III nötig. Die Schmerzlinderung wirkte sich auch positiv auf die Psyche aus.

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