INTERVIEW

Mit niederfrequenter Elektrostimulation gegen Schmerzen

AACHEN (ej). Einem vielversprechenden Ansatz zur Löschung des Schmerzgedächtnisses ist Professor Jens Ellrich an der RWTH Aachen auf der Spur. In Pilotuntersuchungen wies er eine Langzeithemmung der synaptischen Übertragung durch niederfrequente elektrische Stimulation nach. Für die geplante Aufklärung des Wirkmechanismus erhielt der Schmerzforscher vor kurzem den Forschungspreis EGG - den von Grünenthal gestifteten EFIC Grünenthal Grant - in Höhe von 20 000 Euro (wir berichteten). Ellrich erläuterte im Gespräch mit Ellen Jahn, Mitarbeiterin der "Ärzte Zeitung", welchen möglichen therapeutischen Nutzen seine Forschungsergebnisse für Schmerzpatienten haben könnten.

Veröffentlicht:

Ärzte Zeitung: Sie wollen die Reizverarbeitung im Schmerzgedächtnis beeinflussen. Wie kann das geschehen?

Ellrich: Seit einiger Zeit wissen wir, daß wiederholte starke elektrische Reize dauerhaft die synaptische Signalübertragung an den afferenten Nervenfasern im Hippocampus verstärken. So wie der stete Tropfen den Stein höhlt, so kommt es auch im Gehirn zu dauerhaften Veränderungen der Funktionsweise. Wiederholte Reize führen zur Langzeitpotenzierung und sind eine der Ursachen für die Chronifizierung von Schmerzen.

Von der Lern- und Gedächtnisforschung wissen wir, daß dieses Phänomen auch wieder umgekehrt werden kann. So wie wir uns durch mehrmaliges Wiederholen Telefonnummern merken können, können wir sie auch wieder vergessen.

Ähnliches konnten wir für die Langzeitpotenzierung des Schmerzes feststellen: Die plastischen Veränderungen der Signalübertragung an den Synapsen können durch niederfrequente elektrische Stimulation wieder aufgehoben und in den Ausgangszustand versetzt werden. Damit haben wir möglicherweise einen vielversprechenden Ansatzpunkt zum Löschen des Schmerzgedächtnisses.

Ärzte Zeitung: Wie sind Sie denn darauf gekommen, die niederfrequente elektrische Stimulation zur Hemmung der Reizleitung zu nutzen?

Ellrich: Erste Hinweise auf dieses Phänomen haben wir aus Experimenten an Zellverbänden von Tieren erhalten. Hier zeigte sich, daß die Langzeitpotenzierung zum Beispiel durch 15- bis 20minütige elektrische Stimulation der afferenten Nervenfasern mit einem Reiz pro Sekunde verschwindet. An der Universität Erlangen konnten wir dies auch im Tierexperiment bestätigen. Nach meinem Wechsel nach Aachen haben wir schließlich auch bei gesunden Probanden nachgewiesen, daß sich die Schmerzverarbeitung durch niederfrequente elektrische Stimulation drastisch reduzieren läßt.

Ärzte Zeitung: Und wie wurde das bei Menschen überprüft?

Ellrich: Wir bestimmten unter anderem die kortikalen Potentiale (EEG-Schwankungen), die durch das Setzen eines stechenden elektrischen Reizes auf die Haut des Gesichtes oder des Handrückens evoziert wurden.

Anschließend wurde über die gleiche Elektrode für 20 Minuten eine niederfrequente stechende elektrische Stimulation gesetzt, einmal pro Sekunde wie im Tierexperiment. Setzte man danach wieder einen einzelnen elektrischen Reizes auf die Haut, so war die Amplitude des EEG drastisch reduziert, und zwar für mindestens eine Stunde.

Im nächsten Schritt wollen wir nun herausfinden, welche Mechanismen hinter der Schmerzhemmung stecken. Mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanztomographie sowie der Elektroenzephalographie hoffen wir auf die Identifizierung derjenigen Hirnareale, deren Aktivität bei Schmerzen moduliert werden und aktiv an dem Effekt der Langzeithemmung beteiligt sind. Wir wollen herausfinden, ob sich dieses Phänomen nur an der ersten Synapse, also zwischen dem ersten Neuron und dem Rückenmark, abspielt oder ob zentrale Regionen beteiligt sind, wie wir eigentlich vermuten.

Ärzte Zeitung: Ist das der Forschungsbereich, den sie mit dem Preisgeld finanzieren werden?

Ellrich: Ja, der Preis wurde vergeben für die Untersuchung der Hypothese, daß die Schmerzverarbeitung beim Menschen durch supraspinale Mechanismen vermittelt wird. Wir werden an gesunden Probanden prüfen, wie lange der Effekt anhält, wie stark ist er und inwieweit wir ihn variieren können. Zu klärende Fragen sind dabei zum Beispiel die zur Hemmung optimale Frequenz, die Stimulationsdauer oder die Wirkung einer mehrfachen Stimulation.

Ärzte Zeitung: Könnte das Ergebnis eine Variante der bekannten transkutanen elektrischen Nervenstimulation TENS sein?

  
"Wir wollen herausfinden, ob sich dieses Phänomen nur an der ersten Synapse, also zwischen dem ersten Neuron und dem Rückenmark, abspielt oder ob zentrale Regionen beteiligt sind."
 
Professor Jens Ellrich
Schmerzforscher an der RWTH Aachen
   

Ellrich: Prinzipiell ja. Die TENS arbeitet allerdings mit hochfrequenter Stimulation, die als angenehmes Kribbeln empfunden wird. Man könnte das Verfahren aber auch mit niederfrequenten Parametern einstellen, die ein stechendes Mißempfinden hervorrufen. Dies würde dann in die von uns untersuchte Richtung gehen.

Ärzte Zeitung: Dann könnte man eventuell die bisherigen TENS-Geräte nutzen, um das Schmerzgedächtnis zu löschen?

Ellrich: Wenn sich unsere Forschungsergebnisse bestätigen, ja. Um allerdings Schmerzpatienten für die Anwendung der unangenehmen niederfrequenten elektrischen Stimulation zu gewinnen, müssen wir überzeugende Studiendaten liefern, daß die Methode langfristig zu einer Reduzierung der Schmerzen führt.

So wie TENS bisher eingesetzt wird, lindert es zwar akut den Schmerz, doch bricht der Schmerz wenige Minuten nach dem Absetzen wieder durch. Wir sind aber zuversichtlich, daß die niederfrequente elektrische Stimulation einen länger anhaltenden Effekt erzielen wird. Im besten Fall könnte die Stimulation sogar das Schmerzgedächtnis löschen.

Ärzte Zeitung: Wenn Ihre Methode funktioniert, sind dann Analgetika weiterhin notwendig?

Ellrich: Auf jeden Fall. Ich würde nie sagen, daß die elektrische Stimulation die Medikamentengabe ersetzen kann. Bis jetzt sehen wir ja nur ein Phänomen und wissen noch nicht, welcher Mechanismus dahintersteckt. Es geht nicht darum, Medikamente zu ersetzen, sondern langfristig die Gesamtsituation zu verbessern. Schließlich wäre es schon ein Erfolg, wenn wir eine Dosisreduktion der Analgetika erzielten, und dadurch die Rate der unerwünschten Arzneimittelwirkungen minimieren könnten.

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