Medizinpersonal

Was tun gegen sexuelle Belästigung?

Anzügliche Bemerkungen, obszöne Witze, schlüpfrige Mails bis hin zu Berührungen: Sexuelle Aufdringlichkeit gehört auch in Praxen und Kliniken zum Alltag vieler Frauen. Statt die Belästigungen zu ignorieren, sollten sich Betroffene wehren - dazu gibt es mehrere Möglichkeiten.

Von Pete Smith Veröffentlicht:

Eine angehende Medizinerin arbeitet als studentische Hilfskraft in der OP-Assistenz. Der Eingriff zehrt an ihren Kräften, einmal seufzt sie vor Anstrengung, worauf sich der Chefarzt umdreht und sagt: "Stöhn in meinem OP nicht rum, sonst komm ich auf andere Gedanken und kann mich nicht mehr konzentrieren."

In einem Chirurgie-Seminar doziert der Professor über das akute Abdomen. Einmal bleibt er vor einer Studentin stehen, sieht ihr in die Augen und sagt: "Ein weiterer gynäkologischer Grund ist die Eierstocktorsion. Das kann durch sehr – rauen – Sex – verursacht werden." Dabei klopft er mit seinem Stift im Takt seiner Wort auf ihren Trinkbecher.

Während einer Brustkrebsoperation sagt der Chefarzt zu einer Assistenzärztin: "Na, bei Ihnen würden wir aber auch die große Brustwarzenstanze benötigen, oder?"

Beim gemeinsamen Frühstück im Schwesternzimmer fragt ein Pfleger eine junge Kollegin: "Wie oft lässt du dich von deinem Freund denn f***en?"

#MeToo-Bewegung – Wie alles begann

Im Oktober 2017 veröffentlichten die "New York Times" und der "New Yorker" zeitgleich Beiträge, in denen prominente Schauspielerinnen den US-Filmproduzenten Harvey Weinstein der Vergewaltigung, sexuellen Nötigung und Belästigung beschuldigten. Daraufhin rief die Schauspielerin Alyssa Milano Betroffene dazu auf, unter dem Hashtag #MeToo auf dem Kurznachrichtendienst Twitter eigene Erfahrungen sexueller Gewalt publik zu machen.

Noch am selben Tag wurden 200 000 Tweets abgesetzt, am Folgetag waren es eine halbe Million, und auf Facebook nutzten innerhalb von nur 24 Stunden knapp fünf Millionen Nutzer den Hashtag #MeToo.

Seither steht das bereits 2006 von der US-Aktivistin Tarana Burke genutzte Schlagwort #MeToo und seine vielen Varianten weltweit für die sexuelle Belästigung und Gewalt gegen Frauen, für Diskriminierung und Machtmissbrauch. Neben prominenten Schauspielerinnen wie Angelina Jolie, Gwyneth Paltrow und Patricia Arquette berichteten auch Musikerinnen wie Lady Gaga und Sheryl Crow, Moderatorinnen und Models öffentlich von sexuellen Übergriffen.

Bald schwappte die Bewegung auf andere Branchen über, bekannten Politikerinnen, Wissenschaftlerinnen, Journalistinnen, Vertreterinnen aus der Werbebranche und Juristinnen: Me too! Längst sind es nicht mehr allein Frauen, die sich als Opfer sexueller Gewalt aus der Deckung wagen, sondern auch männliche Models und Schauspieler. In Deutschland begann die Debatte im Januar, als Vorwürfe mehrerer Schauspielerinnen gegen den Drehbuchautor und Filmregisseur Dieter Wedel bekannt wurden.

Auch Politikern wie US-Präsident Donald Trump, Bill Clinton und George Bush werden inzwischen sexuelle Übergriffe vorgeworfen. (smi)

Die #MeToo-Debatte auf Twitter.

Sexuelle Belästigungen und Übergriffe gehören auch in Krankenhäusern, Arztpraxen, Pflegeeinrichtungen und medizinischen Fakultäten zum Alltag vieler Frauen.

Seit Oktober vergangenen Jahres, da sich die #MeToo-Bewegung von den USA ausgehend weltweit ausbreitete, trauen sich immer mehr Frauen, öffentlich über ihre Erfahrungen zu reden - zum Beispiel bei Twitter.

Belästigung und Diskriminierung

Auch im Medizinbetrieb, wo die sexuelle Belästigung, Nötigung, Diskriminierung und Gewalt ebenso weit verbreitet ist wie in anderen Branchen.

Betroffen sind hier nicht nur Ärztinnen und Medizinstudentinnen, sondern auch Krankenschwestern, Arzthelferinnen, Altenpflegerinnen, Pflegepraktikantinnen, Rettungsassistentinnen, Rettungssanitäterinnen, Physiotherapeutinnen und Ergotherapeutinnen. Angegangen werden sie sowohl von Vorgesetzten, Ausbildern und Kollegen als auch von Patienten.

Eine junge Pflegerin, die gerade mit der Ausbildung fertig ist, muss einen älteren Patienten duschen. Der fasst ihr an die Brust und beginnt, vor ihren Augen zu masturbieren.

Eine andere Pflegerin ist gerade dabei, ihren Patienten einzucremen, als der ihre Hand an seinen Penis presst und sagt: "Mach mal, das ist doch schön für uns beide. Keine Angst, meine Kleine."

In einer Rehaklinik hilft eine 20-jährige Pflegepraktikantin einem mobilitätseingeschränkten Senior beim Toilettengang. Als sein Penis erigiert, sieht sie weg. Der Patient jedoch starrt ihr ungeniert auf die Brust und sagt: "Bei den prallen Dingern ist das doch kein Wunder."

Sexuelle Belästigung kennt viele Ausdrucksformen. Sie reicht von anzüglichen Bemerkungen, obszönen Witzen und aufdringlichen Fragen zum Privatleben über unerwünschte, mitunter als "versehentlich" getarnte Berührungen, schlüpfrige Mails oder Posts in sozialen Medien sowie der Zurschaustellung pornographischen Materials bis hin zu eindeutigen Angeboten, der Aufforderung zu sexuellen Gefälligkeiten und Handlungen, sexueller Nötigung unter dem Versprechen beruflicher Vorteile oder der Androhung des Karriereendes.

"Unerwünschtes Verhalten"

Nach Paragraph 3, Absatz 4 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) liegt eine sexuelle Belästigung dann vor, "wenn ein unerwünschtes, sexuell bestimmtes Verhalten, wozu auch unerwünschte sexuelle Handlungen und Aufforderungen zu diesen, sexuell bestimmte körperliche Berührungen, Bemerkungen sexuellen Inhalts sowie unerwünschtes Zeigen und sichtbares Anbringen von pornographischen Darstellungen gehören, bezweckt oder bewirkt, dass die Würde der betreffenden Person verletzt wird".

Sexuelle Belästigung ist weit verbreitet, wie Studien bestätigen. So hat die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte 2014 in einer Erhebung 42 000 Frauen in den 28 EU-Mitgliedsstaaten zu ihren Erfahrungen mit körperlicher, sexueller und psychischer Gewalt befragt, was sowohl häusliche Gewalt als auch Stalking und sexuelle Belästigung einschloss.

Danach hat jede dritte Frau seit ihrem 15. Lebensjahr körperliche und/oder sexuelle Gewalt erfahren, und jede zweite Frau war mit einer oder mehreren Formen der sexuellen Belästigung konfrontiert. Eine Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend kam zu ähnlichen Ergebnissen.

Danach haben 58 Prozent aller in Deutschland lebenden Frauen Situationen sexueller Belästigung erlebt, 22 Prozent am Arbeitsplatz oder in der Ausbildung.

Das Ausmaß sexueller Belästigung im Medizinbetrieb hat der Weltärztinnenbund erforscht. In einer Befragung, an der weltweit 1300 Kolleginnen teilnahmen, berichteten 37 Prozent der Frauen über sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, jeweils ein Drittel von ihnen war zum Zeitpunkt der Übergriffe als Studentin oder Assistenzärztin tätig.

In 63 Prozent der Fälle handelte es sich um sexuell anzügliche Bemerkungen, in 55 Prozent um unerwünschten Körperkontakt.

"Höschen eingenässt?"

Ärztinnen berichten beispielsweise vom sogenannten "Golfermove", einer Umarmung von hinten unter dem Vorwand, der jungen Kollegin eine bestimmte Verrichtung zu zeigen. Ein Vorgesetzter fühlt sich beim Anblick einer Medizinstudentin an Pamela Anderson erinnert.

Eine Kollegin wird vor versammelter Mannschaft nach ihrem "Toyboy" gefragt. Eine Medizinstudentin, die ihrem Chef von einem Patienten berichten will, bekommt zu hören: "Hast du dein Höschen eingenässt?" Ein Patient entgegnet einer jungen Ärztin: "Für Sie zieh ich mich doch gern aus."

Wie weit sexuelle Belästigungen und Übergriffe in der Pflege verbreitet sind, hat Claudia Depauli, Gesundheitspsychologin und Erziehungswissenschaftlerin an der Universität Salzburg, erforscht.

Für ihre Erhebung "Sexualität und Pflegeberuf" hat Depauli 2980 Pflegekräfte befragt, von denen zwei Drittel (67 Prozent) angaben, dass sie im Rahmen intimer Pflege von Patienten sexuell belästigt worden seien.

Die Übergänge zwischen sexueller Belästigung und Diskriminierung am Arbeitsplatz sind fließend: Während der Chef die Medizinstudentin als "Mädel" bezeichnet, ist ihr männlicher Kommilitone für ihn der "angehende Herr Kollege".

Eine Assistenzärztin wird von einem älteren Chirurgen gefragt, ob sie "nicht lieber Kinder kriegen" wolle als am Op-Tisch zu stehen, eine andere von einem Assistenzarzt aufgefordert, vor ihrer Bewerbung zur Unfallchirurgin doch lieber ihre "Gebärmutter beim Chef abzugeben".

Schadenersatz denkbar

Der Oberarzt einer Klinik verlangt von der jungen Kollegin, "den Haken endlich wie ein Mann" zu halten. Ein Chefarzt, von einem Familienvater mit dessen Wunsch nach Teilzeit konfrontiert, blafft: "Haben Sie denn gar keine Eier? Bringen Sie Ihre Frau wieder unter Kontrolle!"

Laut AGG haben Betroffene sexueller Belästigung ein Beschwerderecht, ein Leistungsverweigerungsrecht und den Anspruch auf Entschädigung und Schadensersatz. Ihr Arbeitgeber ist danach verpflichtet, Beschwerden zu prüfen und Betroffenen das Ergebnis mitzuteilen.

Ergreift er keine oder nur unzureichende Maßnahmen zur Unterbindung sexueller Belästigungen am Arbeitsplatz, dürfen die Opfer ihre Tätigkeit ohne Verlust des Arbeitsentgelts einstellen, soweit dies zu ihrem Schutz erforderlich ist. Unter Umständen können sie darüber hinaus Schadensersatzansprüche geltend machen.

Tatsächlich ziehen jedoch nur sehr wenige Opfer sexueller Belästigung gegen ihren Arbeitgeber vor Gericht – aus Scham, Unsicherheit, Angst vor beruflichen Nachteilen oder des lieben Betriebsfriedens willen.

Viele ignorieren die Übergriffe, tun sie ab, versuchen, sie "professionell wegzustecken", wie ihnen ältere Kolleg(inn)en und Vorgesetzte noch immer raten, verdrängen sie und verschweigen sie selbst gegenüber Freunden und Verwandten.

"Das beleidigt mich!"

Das jedoch sei der absolut falsche Weg, meint Dr. Heike Schambortski, Leiterin im Präventionsdienst bei der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW). Die Ex-Krankenschwester rät zu einer klaren Ansage: "Ich möchte nicht, dass Sie mich anfassen! Lassen Sie solche Bemerkungen! Das beleidigt mich!"

Auf keinen Fall sollte sich eine Frau mit dem Täter auf eine Diskussion einlassen, sagt die Expertin: "Es ist unerheblich, wie der andere sein Verhalten gemeint hat, er hat es ganz einfach zu unterlassen."

Schambortski weiß um die oft langwierigen Folgen sexueller Übergriffe. Für ihre Diplomarbeit hat die Arbeitspsychologin Interviews mit Betroffenen geführt. Frauen erzählten, dass sie unablässig über die Vorfälle grübelten, unter Schlaflosigkeit, Nervosität und Konzentrationsproblemen litten.

Manche geben sich sogar selbst die Schuld, andere kündigen ihren Job. Schon aus Selbstschutz, rät Heike Schambortski, sollten Betroffene:

»unangemessene Berührungen oder Sprüche niemals ignorieren oder wie einen Scherz behandeln,

»mit deutlichen Worten darauf reagieren (auch bei Demenzkranken),

»Annäherungsversuche mit ausgestreckten Armen und offenen Handflächen abwehren,

»beim Anblick eines onanierenden Patienten das Zimmer verlassen,

»männliche Kollegen einspannen,

»bei einer Vertrauensperson (Stationsleitung, Personal- oder Betriebsrat) Rat einholen,

»im Team über den Vorfall reden,

»sexuelle Übergriffe dokumentieren.

Auch Dr. Christiane Groß, Präsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes, rät Betroffenen dringend, sexuelle Belästigung nicht einfach hinzunehmen. "Wenn Sie spüren, das ist ein Übergriff, dann ist es ein Übergriff, und es ist die Pflicht des Arbeitgebers, die sexuelle Belästigung zu stoppen und in Zukunft zu verhindern."

Ärztinnen, die sich gegen sexuell motivierte Übergriffe wehren wollen, sollten sich von Experten unterstützen lassen.

Anlaufstellen für Beratung

Sexuelle Belästigung ist nach Paragraph 184i Strafgesetzbuch verboten und wird – in der Regel jedoch nur auf Antrag – polizeilich verfolgt.

Eine Frau, die "in sexuell bestimmter Weise körperlich berührt und dadurch belästigt" wurde, muss also Anzeige erstatten, soll der Täter zur Rechenschaft gezogen werden. Sexuelle Belästigung wird mit einer Freiheitsstrafe bis zu zwei, in schweren Fällen sogar fünf Jahren oder einer Geldstrafe bestraft.

Das Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen" vom Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben bietet unter 08000116016 in 15 Sprachen rund um die Uhr Hilfe für Frauen, die von Gewalt betroffen sind. Auch Online-Beratungen sind möglich unter: www.hilfetelefon.de.

Juristisch beraten lassen können sich Opfer sexueller Belästigung bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes unter der Hotline 030-185551855, und zwar montags von 13 bis 15 Uhr sowie mittwochs und freitags jeweils von 9 bis 12 Uhr. Ein Beratungsangebot gibt es auch online unter www.antidiskriminierungsstelle.de.

Der Deutsche Ärztinnenbund hat ein Faltblatt herausgegeben, das von sexueller Belästigung betroffenen Kolleginnen vielfältige Ratschläge gibt und Ansprechpartner auflistet (https://www.aerztinnenbund.de/downloads/5/Faltblatt_MeToo.pdf).

Wer Unterstützung benötigt, um sich gegen sexuelle Übergriffe zur Wehr zu setzen, kann sich unter hilfe@aerztinnenbund.de direkt an den DÄB wenden.

Ortsnahe Ansprechpartner können Betroffene online in der Datenbank des Bundesverbandes der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe in Deutschland ermitteln (www.frauen-gegen-gewalt.de)

Hilfe finden Betroffene auch beim Weißen Ring (dessen Opfertelefon bundesweit täglich von 7 bis 22 Uhr unter 116006 erreichbar ist). Weitere Anlaufstellen: die Telefonseelsorge der evangelischen und katholischen Kirche (Telefon 0800-1110111), das Muslimische Seelsorge-Telefon (Telefon 030-443509821) sowie die Caritas (online unter www.caritas.de/hilfeundberatung/onlineberatung/onlineberatung). (smi)

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