Feinstaub

Die Mär von der gesunden Seeluft

Die Luft an den Küsten ist lange nicht so gesund, wie weithin angenommen. Das zeigen die Untersuchungen eines Atmosphärenphysikers des Helmholtz-Zentrums.

Von Gesa Coordes Veröffentlicht:

GEESTHACHT. Atmosphärenphysiker Volker Matthias hat ein Faible für Leuchttürme und die norddeutsche Küste. Oft fährt er mit seiner Ehefrau von Hamburg nach Nordfriesland, um sich an beschaulichen Küstenorten zu erholen. Aber er hat einen anderen Blick auf die Handelsschiffe, die am Horizont vorüberziehen.

Der 53-jährige Abteilungsleiter im Institut für Küstenforschung am Helmholtz-Zentrum hat mit seinem Team im Rahmen eines EU-Projekts genau berechnet, welche Auswirkungen die Frachter aus der Nordsee auf die Luftqualität haben. Fazit: „Rund ein Viertel der Stickoxide an den Nordseeküsten stammen von Schiffsabgasen“, sagt Matthias. Bei den Feinstäuben seien es bis zu 20 Prozent.

Damit nicht genug: Die abgashaltige Seeluft zieht über Hunderte von Kilometern weit ins Binnenland etwa bis nach Hessen und Thüringen. Und dabei reagieren die Schiffsabgase mit anderen Luftschadstoffen – etwa aus der Landwirtschaft –, wodurch sich weiterer Feinstaub bildet. Die Folge: Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO sterben jährlich mehr als 50.000 Menschen vorzeitig an den Folgen von Schiffsemissionen.

Dreidimensionale Computermodelle

Mit Atmosphärenmessungen und Luftqualitätsforschung beschäftigt sich Volker Matthias bereits seit seiner Promotion über Messverfahren für Aerosolpartikel. Während des Physikstudiums in Hamburg und seiner Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Meteorologie fuhr er auch auf Forschungsschiffen im Pazifik und in der Nordsee: „Ich werde allerdings seekrank“, räumt er ein.

2003 wechselte er ans Helmholtz-Zentrum in Geesthacht, wo er heute die Abteilung für Chemietransportmodellierung leitet. Die Schiffsabgase untersucht Matthias aber nicht vor Ort. Der Physiker arbeitet mit dreidimensionalen Computermodellen, mit denen die meteorologischen und chemischen Vorgänge in der Luft nachgebildet werden. Grundlage seiner Berechnungen sind die Bewegungsdaten aller kommerziell genutzten Handelsschiffe, die in der Nordsee unterwegs sind.

Treibstoffkontrolle per Satellit

Jeder Frachter muss nämlich einen Satellitensender an Bord haben, mit dem die aktuelle Position und die Geschwindigkeit rund um die Uhr an die Verkehrsleitzentralen übermittelt wird. Dadurch lässt sich berechnen, wo und wie schnell jedes einzelne Schiff fährt, wie hoch der Treibstoffverbrauch ist und welche Mengen an Stickoxiden, Feinstaub und anderen Schadstoffen ausgestoßen werden. Mit einem sogenannten Chemietransportmodell werden daraus die Schadstoffverteilungen im Küstenraum abgeleitet.

2010 hat Matthias mit den Untersuchungen begonnen. Damals hatte man die Schiffsabgase noch wenig im Blick, weil Warentransporte mit Frachtschiffen als klimafreundlich gelten: „Es gibt keine effektivere Art, um Container zu transportieren“, sagt der Forscher. Pro transportierter Tonne und Kilometer verursachen Lkw im Vergleich zu Schiffen 15-mal so hohe Kohlendioxid-Emissionen.

Der Haken: Bei den Luftschadstoffen schneidet die Schifffahrt schlechter als jedes andere Transportmittel ab. Auf hoher See verbrennt sie Schweröl, ein Rückstand, der bei der Erdölverarbeitung in der Raffinerie übrig bleibt. Bei seiner Verbrennung entstehen große Mengen gesundheitsschädlicher Schwefel- und Stickoxide.

Und auch in den Häfen sind Schiffe eine „ernst zu nehmende Belastungsquelle“, sagt Matthias. So steuere der Hamburger Hafen, den seine Abteilung untersuchte, ein knappes Drittel zu den Stickoxidemissionen der Hansestadt bei. Dabei stammen 70 Prozent der Abgase von liegenden Schiffen, weil Frachter und Kreuzfahrer auch im Hafen Energie für Kühlung oder Hotelbetrieb brauchen. Und dafür werden Generatoren verwendet, die mit Schiffsdiesel ohne Katalysator laufen. Im Hamburger Hafen soll daher zunehmend mit Strom von Land gearbeitet werden.

Für die Ostsee hat Matthias in einem Forscherteam mit Kollegen aus Rostock, Danzig, Riga und Göteborg ebenfalls hohe Stickoxidbelastungen festgestellt. Dort sind vor allem Südschweden, Dänemark sowie die deutsche Ostseeküste betroffen, wobei die Emissionen bis nach Berlin driften.

Abgasgrenzwerte helfen

Die Simulationen zeigen aber auch, dass sich die Schadstoffbelastung wirkungsvoll durch Abgasgrenzwerte bei Schiffen reduzieren lässt. In der Nord- und Ostsee dürfen inzwischen nur noch Frachter mit Kraftstoffen fahren, die maximal 0,1 Prozent Schwefel enthalten. Und ab 2021 gelten deutlich strengere Regeln zum Ausstoß von Stickoxiden.

Von da an müssen alle neu gebauten Schiffe in der Nord- und Ostsee mit Katalysatoren ausgerüstet oder mit Flüssiggas betrieben werden. Und dann müssten sich – sofern man den sinkenden Treibstoffverbrauch noch mit einberechnet – die Emissionen bis 2040 um etwa 80 Prozent verringern, hat Matthias errechnet: „Wenn die Regelungen eingehalten werden, sind wir eigentlich optimistisch.“

Belastungen durch die Schifffahrt

  • 50.000 Menschen sterben nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO jährlich vorzeitig an den Folgen von Schiffsemissionen.
  • Ein knappes Drittel steuert der Hamburger Hafen zu den Stickoxidemissionen der Hansestadt bei.
  • 70 Prozent dieser Abgase stammen von liegenden Schiffen, weil Frachter und Kreuzfahrer auch im Hafen Energie für Kühlung oder Hotelbetrieb brauchen.
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