Kongress der Kinder- und Jugendärzte

Pädiater fordern mehr ärztlichen Sachverstand bei der Inklusion

Die häufig ideologisch motivierte Umsetzung der Inklusion behinderter Schulkinder wird von Kinder- und Jugendärzten kritisiert. Pädiater könnten für eine sachgerechte Umsetzung sorgen.

Raimund SchmidVon Raimund Schmid Veröffentlicht:
Inklusion in einer Gemeinschaftsgrundschule in Nordrhein-Westfalen. Eine Sonderschullehrerin beschäftigt sich mit einem Mädchen mit Down-Syndrom in der Klasse.

Inklusion in einer Gemeinschaftsgrundschule in Nordrhein-Westfalen. Eine Sonderschullehrerin beschäftigt sich mit einem Mädchen mit Down-Syndrom in der Klasse.

© picture alliance / Oliver Berg/d

LEIPZIG. Das Thema Inklusion ist von Politikern und Pädagogen stark vereinnahmt worden und wird ohne entsprechende Ressourcen und weitgehend unter Ausschluss der Ärzte umgesetzt. Auf der Strecke bleiben dabei gerade Kinder und junge Menschen, die von der Inklusion besonders profitieren sollten.

Auf diese Defizite hat Dr. Christoph Kretzschmar beim 114. Kongress für Kinder- und Jugendmedizin in Leipzig aufmerksam gemacht. Im Bildungssystem und Politikbereich werde dabei über den Werdegang von Patienten entschieden, für die eigentlich die Kinder- und Jugendärzte, andere grundversorgende Ärzte und auch Fachmediziner die ersten Ansprechpartner seien.

Über die reinen medizinischen Belange hinaus müssten dabei zudem auch die sozialen Lebensbedingungen des Kindes mit einbezogen werden, erläuterte Kretzschmar als Kongresspräsident der 70. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und für Jugendmedizin (DGSPJ).

Regelschule wird zur Folter

Im Ergebnis führe dies dazu, dass für manche Kinder das gemeinsame Lernen ein Segen, für andere eine zu starke Belastung sein könne. Eine Regelschulklasse mit 25 Schülern kann laut Kretzschmar für einen Autisten gar zur "Folter" werden. Eine Regelschulklasse könne daher "sehr exklusiv sein, eine Förderschule durchaus inklusiv".

Die Erziehungswissenschaftlerin und Inklusionsforscherin Professor Tanja Sturm aus Münster kritisierte beim Leipziger Kongress vor allem die inflexible Haltung vieler Schulen und deren Träger: "Wir verändern kaum die Schulen, in die inkludiert wird." Die Schule verharre weitgehend in ihren festgefahrenen Strukturen.

40 Prozent aller Kinder mit sonderpädagogischen Förderbedarf werden in Deutschland im Grundschulalter inklusiv beschult. Der Anteil inkludierter Kinder in weiterführenden Schulen sinke aber dann stark ab, so Sturm weiter. Somit könne das politische Postulat, Inklusion auf allen Ebenen zu verankern, derzeit nicht annähernd erreicht werden.

Dies liegt nach Ansicht von Professor Michael Seidel, Facharzt für Psychiatrie und Neurologie aus Bielefeld, vor allem daran, dass die Politik die Inklusion immer noch weitgehend als Sparmodell sieht, in dem ohne großen finanziellen Aufwand und mit viel zu geringen personellen Ressourcen die ideologisch motivierte Inklusion in ihrer reinen Form "kompromisslos-rigide" durchgedrückt werden soll. Deshalb forderte auch er die Ärzte auf, sich stärker einzumischen und auch in den eigenen Reihen die Inklusion endlich als zentralen "Leitbegriff" zu sehen und so zu handeln.

Mehr Integrationshelfer gebraucht

Dringenden Handlungsbedarf sieht auch die Selbsthilfe. Anne Wiedemann-Grolig von der Selbsthilfeorganisation von Kinder mit Speiseröhrenmissbildung (Keks e.V.) zählte in Leipzig eine ganze Latte von Problemen auf, mit denen zum Beispiel Kinder mit Speiseröhrenmissbildungen im Alltag konfrontiert werden.

Kindergärten würden betroffene Kinder nicht aufnehmen wollen, weil sie zu stark husten oder Angst davor haben, dass ihnen das Essen im Hals stecken bleibt. Häufig würden sie deshalb auch beim Sport oder beim Kindergeburtstag ausgegrenzt. Deshalb würden weit mehr Integrationshelfer und Schulgesundheitsfachkräfte benötigt, als derzeit vorhanden sind.

Lesen Sie dazu auch den Kommentar: Inklusion – nicht nur Dogma

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