Arndt Striegler bloggt

Machtprobe im Brexit-Poker

Im Streit um die Kautelen des EU-Austritts ist jetzt das britische Unterhaus am Zug. Gerade ist May ein Staatssekretär von der Fahne gegangen. Derweil wird im Beamtenapparat das Szenario eines ungeregelten Brexits durchgespielt. High Noon für die Premierministerin, meint Arndt Striegler.

Arndt StrieglerVon Arndt Striegler Veröffentlicht:
Lebt und arbeitet seit mehr als 30 Jahren in London: Arntdt Striegler, Korrespondent für die "Ärzte Zeitung" in London.

Lebt und arbeitet seit mehr als 30 Jahren in London: Arntdt Striegler, Korrespondent für die "Ärzte Zeitung" in London.

© Privat

LONDON. Es wird spannend im Brexit-Poker! In dieser Woche ringt Premierministerin Theresa May aber ausnahmsweise mal nicht mit Brüssel – nein, sie ringt mit der eigenen Partei, mit ihrem eigenen Kabinett und vor allem mit dem britischen Parlament.

Das Parlament muss über das EU-Austrittsgesetz debattieren und abstimmen. Und es ist fraglich, ob die Parlamentarier dies tun werden – am Dienstag trat aus Protest gegen Mays europafeindliche Politik ein wichtiger Unterstaatssekretär zurück, weil er den harten Anti-EU-Kurs der Regierung nicht länger mittragen will.

Die Machtprobe zwischen Parlament und Regierung dürfte am Mittwoch einen vorläufigen Höhepunkt erreichen. May wackelt. Sowohl in ihrer Rolle als Premierministerin, als auch in ihrer Rolle als Verhandlungsführerin im Pokerspiel mit Brüssel.

No news is good news" – das pflegen meine britischen Landsleute zu sagen, wenn drohendes Unheil naht, dieses aber (noch) keine letztendliche Gewissheit ist. A

uf die derzeitigen Brexit-Verhandlungen zwischen London und Brüssel bezogen stimmt diese Redewendung nicht. Es gibt Neuigkeiten in Sachen Brexit – nur leider keine guten.

Mays Kabinett ist zerstritten

Das Kabinett der Theresa May ist nach wie vor zerstritten, wie es weiter gehen soll. Daran konnten auch diverse von der Londoner Regierung eiligst einberufene Kabinettstreffen nichts ändern.

Ob das nun die ungeklärte Frage einer künftigen Zollunion mit der EU ist oder die offene Frage, wie der kleine und große Grenzverkehr zwischen Nord-Irland und der Republik Irland nach dem Brexit gehandhabt werden soll. Oder die Frage, wie von britischen Firmen gehaltene persönliche Daten von EU-Bürgern nach März 2019 weiter benutzt oder ob sie gelöscht werden – die Liste der noch offenen Fragen ist schier endlos!

Kleine Fortschritte, zum Beispiel was die Post-Brexit-Kooperation Großbritanniens bei EURATOM in Sachen nuklearen Medizinprodukten und anderen radioaktiven Materialien angeht, können nicht über die Tatsache hinweg täuschen, dass es gegenwärtig eher danach aussieht, als wenn das Königreich die EU verlassen wird, ohne dass wichtige Regeln abgestimmt sind.

Und ja, ich halte einen "No Deal-Brexit" inzwischen für durchaus denkbar. Und ich bin mit dieser – pessimistischen – Einschätzung längst nicht alleine.

"The day after" wird durchgespielt

Erst kürzlich wurde bekannt, dass der britische Beamtenapparat inzwischen ernsthaft ein Szenario durchspielt, wonach bereits am ersten Tag nach dem Brexit Ende März 2019 die britischen Häfen wie Dover schließen müssen, weil entweder niemand im Hafen mehr weiß, wie ab jetzt mit Waren aus der EU zu verfahren ist.

Oder weil die Hafenverwaltungen schlicht überfordert sind, den über Nacht plötzlich neu anfallenden Papierkram, der einen reibungslosen Warenverkehr zwischen dem Festland und dem Königreich sicherstellen könnte, zu bewältigen.

Ein Horrorszenario, aber leider eines, das mit jedem Tag ohne neue Verhandlungs-Ergebnisse wahrscheinlicher wird.

Nirgends spürt man diese Unsicherheit und miese Stimmung mehr als im staatlichen britischen Gesundheitsdienst (National Health Service, NHS). Fast täglich berichten britische Medien über Fälle, bei denen in staatlichen Kliniken dringend benötigte Fachärzte aus dem Ausland kein Visum bekommen, weil die Regierung May daran festhält, die Zahl der zuwandernden Arbeitnehmer auf "einige zehntausend pro Jahr" (Zitat May) zu reduzieren.

Brexit, da sind sich alle Experten im Königreich einig, wird diese Situation weiter verschlechtern. Das heißt für für britische Patienten heißt: Noch länger auf Operationen oder fachärztliche Konsultationen warten zu müssen, als dies heute schon der Fall ist.

Kliniken suchen die Öffentlichkeit

Gerade vor wenigen Tagen wandten sich große Londoner Kliniken an die Presse und klagten, dass seit Jahresbeginn mehr als 100 im Ausland angeworbene und dringend gebrauchte Fachärzte nicht einreisen durften, weil es nicht genug Visa gibt. Ein Stück aus dem Tollhaus, aber leider Realität in Großbritannien anno 2018.

Die Zeit wird dabei immer knapper: Ende Juni, beim nächsten EU-Gipfel, sollen wichtige Brexit-Fragen wie die ungeklärte Grenzfrage zwischen Irland und Nord-Irland geklärt und abgehakt werden.

Die EU ist bereit, hat konkrete Vorstellungen und hat diese auch klar kommuniziert. Und London? In London streitet sich die Regierung intern und kann sich nicht auf eine einheitliche Linie gegenüber Brüssel einigen.

Ein trauriges und beängstigendes Bild, das eher an einen aufgescheuchten Hühnerhaufen erinnert, anstatt an eine kompetente Regierung. "Die sind planlos und wir müssen das ausbaden", sagte mir kürzlich ein befreundeter Londoner Klinikarzt.

Sollte es in den kommenden knapp zwei Wochen bis zum EU-Gipfel kein Wunder geben, dann ist schon jetzt absehbar, dass auch das kommende Spitzentreffen in Sachen Brexit keine Einigung bringen wird.

Und da ich leider nicht an Wunder glaube, wage ich eine ganz persönliche Prognose: Der Brexit wird entweder im letzten Moment von den Briten noch abgeblasen, weil die Konsequenzen eines EU-Ausscheidens zu katastrophal für das Land wären.

Oder – derzeit wahrscheinlicher – es wird tatsächlich keine Einigung mit Brüssel geben. Und was dann passiert – das weiß der Himmel. Aber gut wird's sicher nicht.

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