Deutschlands größter Pflegedienst in der Krise

Immer weniger Menschen in Deutschland sind bereit, ihre Angehörigen rund um die Uhr zu betreuen. Das habe massive Konsequenzen für das System der Pflegeversorgung, warnen Verbände.

Thomas HommelVon Thomas Hommel Veröffentlicht:
Die Pflege eines nahen Verwandten: Nur noch 18 Prozent der Bundesbürger sind bereit, das rund um die Uhr zu übernehmen.

Die Pflege eines nahen Verwandten: Nur noch 18 Prozent der Bundesbürger sind bereit, das rund um die Uhr zu übernehmen.

© Sven Simon / imago

BERLIN. Die Zahl pflegender Angehöriger in Deutschland ist nach Angaben des zur PKV gehörenden Zentrums für Qualität in der Pflege (ZQP) deutlich gesunken. Nur noch knapp über 18 Prozent der Bundesbürger seien heute grundsätzlich bereit, einen Partner oder nahen Angehörigen im Pflegefall rund um die Uhr zu betreuen, sagte Zentrumsleiter Dr. Ralf Suhr der "Ärzte Zeitung".

Vor fünf Jahren hätten sich noch 35 Prozent der Deutschen entsprechend geäußert. "Diese Entwicklung muss nachdenklich stimmen."

Neben ganz persönlichen Gründen, so Suhr, seien der Wandel traditioneller Familienstrukturen und erhöhte Mobilitätsanforderungen auf dem Arbeitsmarkt Ursachen für die rückläufige Zahl pflegender Angehöriger. "Die Eltern leben in Münster oder Bielefeld, die Kinder in München oder Freiburg - aus der Ferne die Pflege der Eltern oder Großeltern zu organisieren, ist kaum möglich."

Das Wegbrechen des größten Pflegedienstes in Deutschland würde das System der Pflegeversorgung aber vor massive Probleme stellen. Derzeit gibt es in Deutschland etwa 1,5 Millionen pflegebedürftige Menschen -Kranke, Alte oder Menschen mit Behinderung -, die zu Hause in den eigenen vier Wänden von Familienmitgliedern gepflegt werden.

Hinzu kommen 2,5 Millionen Hilfebedürftige, die zwar häusliche Betreuung benötigen, aber keine Leistungen der Pflegeversicherung erhalten.

Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) hat für dieses Jahr eine Pflegereform angekündigt, mit der er auch die Situation pflegebedürftiger Menschen und ihrer Angehörigen verbessern will (wir berichteten).

An diesem Montag trifft sich Rösler in Berlin mit Pflege- und Sozialverbänden, um über die Belange pflegender Angehöriger zu beraten.

Die Erwartungen sind groß. Vor allem die Betreuung Demenzkranker in der Familie muss nach Ansicht der Sozialverbände besser honoriert werden. Da viele an Demenz erkrankte Menschen bislang keine Pflegestufe zuerkannt bekämen, erhielten die Angehörigen kein Pflegegeld, kritisierte die Präsidentin des Sozialverbands VdK, Ulrike Mascher, im Vorfeld der Pflegegespräche bei Rösler.

Maximal 200 Euro im Monat könnten derzeit aus der Pflegekasse bezahlt werden. "Für eine oft 24 Stunden notwendige Versorgung ist das so gut wie nichts."

Die Bundesregierung sei aufgerufen, so Mascher, pflegende Angehörige bei der Pflegereform angemessen zu berücksichtigen. "Wer die Pflege behinderter und älterer Menschen sicherstellen will, muss Familien entlasten, unterstützen und beraten."

Der Forderungskatalog des VdK ist lang: Anspruch auf Pflegezeit analog zum Elterngeld inklusive Rückkehrrecht in die Vollzeiterwerbstätigkeit, Anhebung der Rentenbeiträge für pflegende Angehörige, um pflegende Frauen vor Altersarmut zu schützen, sowie eine rasche Anhebung und Dynamisierung des Pflegegelds in Höhe der Inflationsrate. Erfolge die Anpassung nicht, "würden immer mehr Menschen in einen pflegebedingten Sozialhilfebezug abrutschen".

Rösler hat bereits signalisiert, die häusliche Pflege zu stärken und den Angehörigen mehr Unterstützung auch finanzieller Art zukommen zu lassen. Alle von den Sozialverbänden vorgetragenen Forderungen wird er aber nicht umsetzen können, da dafür das Geld der Sozialkassen nicht reicht. Experten wie ZQP-Leiter Suhr sehen denn auch nicht nur die Politik, sondern auch die Unternehmen in der Pflicht.

Sie müssten verstärkt über flexible Arbeitszeitmodelle nachdenken, um pflegenden Angehörigen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu erleichtern. Kassen, Ärzte und professionell Pflegende wiederum müssten Angehörige deutlich mehr über bereits bestehende Unterstützungsangebote wie etwa Beratung, Kurzzeitpflege und ähnliches informieren, so Suhr.

Lesen Sie dazu auch: Kuren für pflegende Helfer

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