Diabetes-Versorgung im Norden

Blindflug ohne Ende

Schleswig-Holstein hat als erstes Bundesland einen Diabetesbericht herausgegeben. Viele Fragen bleiben unbeantwortet.

Dirk SchnackVon Dirk Schnack Veröffentlicht:
Sieht keinen Grund zum Feiern: Professor Morten Schütt.

Sieht keinen Grund zum Feiern: Professor Morten Schütt.

© Schnack

LÜBECK. Der neue Diabetesbericht im nördlichsten Bundesland liefert eine wichtige Erkenntnis: Das ansonsten zu beobachtende Nord-Südgefälle bei der Diabetes-Prävalenz macht an der Grenze zu Schleswig-Holstein halt - hier liegt man im Bundesschnitt. 

Dennoch warnt Professor Morten Schütt vom UKSH in Lübeck davor, weitere Anstrengungen im Kampf gegen Diabetes zu unterlassen. "Es gibt keinen Grund zum Feiern", sagt Schütt, der maßgeblich an der Erstellung des Diabetesberichts beteiligt war und Landesvorsitzender der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) im Norden ist.

Er vermisst weitere Fakten. "Die tatsächlichen Zahlen kennt niemand. Die Ausgaben steigen, ohne dass wir wissen, ob wir erfolgreich investieren", sagte Schütt.

Er spricht von einem "Blindflug", da einerseits zwar viel Geld ausgegeben wird, andererseits aber wichtige Innovationen und neue Technologien nicht bezahlt werden können. 

Irritierende Zahlen

In diesem Zusammenhang verweist er auf Kassendaten: Bei der AOK geht man von einem Anteil von 9,7 Prozent Diabetikern unter den Versicherten aus. Die Barmer GEK nennt 8,0 Prozent, die TK 5,5 Prozent.

Ein Prozentpunkt Differenz bedeuten bundesweit 820.000 Diabetiker mehr oder weniger. Bei Durchschnittskosten von 3835 Euro je Diabetespatient im Jahr macht dies eine Ausgabendifferenz von über drei Milliarden Euro aus. 

Um Diabetes wirksamer bekämpfen zu können, sind nach Ansicht Schütts ein landesweites Diabetesregister und gezielte Schulungen erforderlich. Das Register könnte helfen, weil es Versorgungsgrößen, Daten zu Versorgungsqualität und Kostenanalysen bieten könnte.

Schulungen wünscht er sich für alte Menschen, in Krankenhäusern durch Diabetes-Konsilteams, in Regionen mit überdurchschnittlich vielen sozial schwachen Familien sowie in Schulen durch Schulkrankenschwestern.

Im Norden betreuen neben den Hausärzten auf einer zweiten Versorgungsebene 30 niedergelassene Diabetologen in 25 Schwerpunktpraxen die Patienten. Damit versorgt ein Diabetologe rechnerisch 90.000 Einwohner, im bundesweiten Durchschnitt muss ein Diabetologe dagegen nur 70.000 Einwohner versorgen.

Aktuell werden nach Zahlen der KV Schleswig-Holstein 98.987 Patienten mit Diabetes Typ zwei von 1620 Ärzten und 7155 Patienten mit Typ eins von 61 Ärzten in den Disease-Management-Programmen betreut.

Während bundesweit rund 30 Prozent der Menschen mit Diabetes an DMP teilnehmen, sind es in Schleswig-Holstein über 50 Prozent. Die DMP gelten als wichtige Basis für die Verzahnung der Versorgungsebenen.

Außer von der Regelversorgung profitieren die Betroffenen massiv von Modellprojekten und dem Engagement einzelner Akteure. Ein Beispiel dafür ist die "Mobile Diabetesschulung Schleswig-Holstein" (MDSH), die von der Arbeitsgruppe Diabetes des Sozialministeriums und leitenden Kinderärzten Schleswig-Holsteins etabliert wurde.

Erfolgreiches Versorgungskonzept

Das 1999 gestartete Angebot zählt zur Abteilung für Kinderendokrinologie und -diabetologie des Kinderhormonzentrums am UKSH in Lübeck. Die MDSH führt zusammen mit den Teams der jeweiligen Kinderkliniken fünftägige Diabetesgruppenschulungen für Kinder und Jugendliche sowie deren Eltern durch.

Insgesamt sind sie an sieben verschiedenen Kinderkliniken im Land präsent und erreichen im Jahr rund 150 Kinder und Jugendliche.

Der Diabetesbericht bescheinigt dem Team eine "erheblich verbesserte" Versorgung in Bezug auf altersgerechte und wohnortnahe Folgeschulungen für Kinder. Die mobile Schulung wurde nach Ablauf von drei Jahren Projektzeit und Evaluation in die Regelversorgung der GKV aufgenommen.

Der Diabetesbericht macht auch deutlich, dass sich das Problem weltweit von Jahr zu Jahr verschärft. 1985 ging die Weltdiabetesgesellschaft noch von 30 Millionen Betroffenen weltweit aus.

Zehn Jahre später wurde diese Zahl auf 135 Millionen korrigiert, 2011 auf 366 Millionen. Im Jahr 2030 schließlich wird die Zahl auf 552 Millionen Erkrankter weltweit gestiegen sein.

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