Drittes Auge erkennt ganz ohne Retina den Tag und die Nacht

BERLIN (kat). Menschen leben nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit. Herzschlag, Tag-Nacht-Rhythmus, Menstruation sind nur einige der Rhythmen, die die innere und äußere Natur vorgeben, zum Teil ohne, daß wir dessen gewahr sind. Wie groß derzeit das Interesse etwa an der inneren Uhr ist, belegt unter anderem die Gründung des Forschungsprojekts EUCLOCK.

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Die innere Uhr tickt unablässig. Zeitgeber wie das Licht garantieren, daß sie nicht aus dem Tritt kommt. Die für das Leben wichtigen Rhythmen können Millisekunden betragen, wie das Oszillieren der Gehirnwellen, oder etwa 28 Tage, wie beim Zyklus der Frau.

Der auch medizinisch wichtigste Rhythmus ist der zirkadiane, der in einigen Situationen beim Einnahmezeitpunkt von Medikamenten berücksichtigt wird - etwa bei Insulin-Injektionen. Damit die innere Uhr exakt läuft, muß sie täglich neu gestellt werden. Das Licht ist der wichtigste Zeitgeber.

Chrono- und Neurobiologen sind dem inneren Taktgeber seit langem auf der Spur. Er ist im suprachiasmatischen Nukleus (SCN) lokalisiert, der hinter dem Nasenrücken über der Sehnervkreuzung liegt. Rhythmisch erzeugte elektrische Impulse werden von ihm an andere Hirnregionen weitergeleitet. Das erläuterte Dr. Johanna Meijer aus Leiden in den Niederlanden beim Berliner Kolloquium der Gottlieb Daimler- und Karl Benz-Stiftung.

Rezeptoren und Sehpigment Melanopsin bilden Drittes Auge

Für die komplexe Synchronisation von Innen- und Außenzeit, als Entrainment bezeichnet, ist außer Stäbchen und Zapfen das in den 1990er Jahren entdeckte "Dritte Auge" von besonderer Bedeutung. Dabei handelt es sich um spezielle Lichtrezeptoren, die unabhängig von der Netzhaut die Tageslänge ermitteln.

    Lichtbehandlung wird auch bei prämenstruellem Syndrom genutzt.
   

Das Sehpigment Melanopsin ist für diesen Lichtsinn erforderlich, wie der Biologe Professor Russel Foster aus London sagte. Man war diesem Pigment auf die Spur gekommen, als man herausfand, daß bei Blinden nicht automatisch der zirkadiane Rhythmus beeinträchtigt ist.

Der Rhythmus der inneren Uhr wirke sich auf Verhalten und Organfunktionen bis hinunter auf die Ebene der Zellen und Moleküle aus, so Meijer. Alle psychologischen, hormonellen und physiologischen Rhythmen sind mit der inneren Uhr synchronisiert.

Daher kann eine Störung die Gesundheit beeinträchtigen und sich etwa als Schlafstörung oder verminderte Leistungsfähigkeit auswirken. Ohne korrekte Synchronisation gibt es keine stabile psychische Verfassung, wie Professor Anna Wirz-Justice aus Basel betonte.

"Wir leben heute in einer chronobiologischen Finsternis"

Der zirkadiane Rhythmus gilt für alle. Dennoch gibt es verschiedene, genetisch festgelegte Chronotypen. Professor Till Roenneberg, Chronobiologe an der Ludwig-Maximilians-Universität München, wies aber darauf hin, daß sich Nachteulen und Frühaufsteher zur gleichen Tageszeit untereinander ähnlicher sind, als mit sich selbst zwölf Stunden später.

Nach Aussagen von Roenneberg befinden wir uns heute in einer "selbsterschaffenen chronobiologischen Finsternis". Die Folge dieses Lebens entgegen der inneren Uhr können bekanntlich Schlafstörungen, Energielosigkeit, Verstimmungen bis hin zu schweren Depressionen sein. Gerade Schichtarbeiter und in geringerem Maße Fernreisende können ein Lied von den Folgen eines verschobenen Zeitgebers singen.

Im Dienste unserer Gesundheit und Lebensqualität hält Roenneberg ein besseres Verständnis der Mechanismen der inneren Uhr und ihrer aktiven Synchronisation mit der Umwelt für wichtig. Das jetzt gegründete und von der EU geförderte Forschungsprojekt EUCLOCK ist ein erster Schritt hin zu einem Zentrum für chronobiologische Forschung.

Es vernetzt europaweit die Forschung zur inneren Uhr. In Deutschland haben inzwischen Chronobiologen, Mediziner, Psychologen und Sprachwissenschaftler zusammen mit dem Ladenburger Kolleg der Gottlieb Daimler- und Karl Benz-Stiftung die Arbeit mit dem Schwerpunkt Schichtarbeit begonnen.

Zur Behandlung bei Winterdepression wird schon lange die Lichttherapie verwendet - eine erste psychiatrische Therapie, die auf den Erkenntnissen der Neurowissenschaften fußt.

Erfolgversprechend ist ihre Anwendung nach Angaben von Professor Debra Skene aus Guildford in Großbritannien auch bei prämenstruellem Syndrom, Bulimie und Schwangerschaftdepressionen sowie begleitend in der Schlaf-Wach-Umkehr bei der Alzheimer Demenz. Da auch Wachstums- und Heilungsprozesse mit der inneren Uhr verknüpft sind, werde künftig auch in der Krebsforschung auf dieses Pferd gesetzt werden, so Skene.

Bei Depressionen treten Verschiebungen des natürlichen Rhythmus besonders häufig auf. Die Funktionen sind gegenüber dem Schlaf-Wach-Rhythmus vorverschoben, vermindert ausgeprägt oder weniger stabil. Ob die Veränderung Ursache oder Folge der Verstimmung ist oder aber beide unabhängig voneinander bestehen, ist unklar.

Zumindest gehen Schlafstörungen oft mit Depressionen einher. Eine schlaflose Nacht kann das schnellstwirksame Mittel gegen eine leichte Depression sein. Stimmungsaufhellungen lassen sich auch durch Vorverlegung der Schlafenszeit erzielen.

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