Geschrumpfter Hippocampus

Ein Glas Wein am Abend schädlich fürs Gehirn?

Wer regelmäßig jeden Abend ein Glas Wein oder eine Flasche Bier trinkt, muss nach 30 Jahren verstärkt mit kognitiven Problemen rechnen. So leidet mitunter das lexikalische Gedächtnis, und auch der Hippocampus ist kleiner als bei Abstinenzlern.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Haben kleine Mengen gravierende Auswirkungen auf das Gehirn.

Haben kleine Mengen gravierende Auswirkungen auf das Gehirn.

© richkin1979 / stock.adobe.com

OXFORD. Ist ein Bier oder ein Glas Wein am Abend schädlich, gesundheitsförderlich oder weder noch? Seit mehr als 100 Jahren wird darüber diskutiert, ohne dass sich eine Lösung der Frage abzeichnet.

Randomisiert-kontrollierte Studien sind praktisch nicht möglich, und Beobachtungsstudien basieren auf den wenig vertrauenswürdigen Angaben von Personen zu ihrem Alkoholkonsum. Aus den hunderten von Studien zu diesem Thema kristallisiert sich letztlich aber ein U-Kurven-Effekt heraus.

 Danach wäre ein moderater Konsum eher gesundheitsfördernd mit einem reduzierten Risiko für Demenzen und kardiovaskuläre Erkrankungen, erst über einer Dosis von 20–25 g am Tag, was einem gut gefüllten Glas Wein oder einem halben Liter Bier entspricht, scheint der Nutzen in einen Schaden überzugehen. Die meisten Richtlinien zum Alkoholkonsum orientieren sich mittlerweile an dieser Marke für Männer, bei Frauen sollte es ein Drittel bis die Hälfte weniger sein, dann gilt der Alkoholkonsum noch als sicher.

Dosisabhängige Schädigung des Hippocampus

Diese Auffassung wird nun von einer aktuellen britischen Untersuchung infrage gestellt. Sie sieht eine dosisabhängige Schädigung des Hippocampus und der weißen Substanz auch bei regelmäßigem niedrigem Alkoholkonsum. Und diese Schäden werden nicht nur in der Bildgebung sichtbar, sie führen offenbar auch zu einem schnelleren kognitiven Abbau – zumindest beim lexikalischen Gedächtnis.

Die Studienautoren um Dr. Anya Topiwala von der Universität in Oxford befürworten daher eine Absenkung der Grenzwerte für sicheres Trinken auf 16 g Alkohol pro Tag, wie sie vor kurzem in Großbritannien erfolgt ist. Ferner sehen sie im Alkoholkonsum einen modifizierbaren Risikofaktor für die kognitive Gesundheit, der im mittleren Lebensalter angegangen werden muss.

 „Primärpräventive Interventionen in späteren Lebensphasen könnten zu spät kommen“, schreiben sie. Ihre Schlussfolgerungen basieren auf einer Analyse von 527 Teilnehmern der Whitehall-II-Kohortenstudie. Diese waren in den Jahren 2012 bis 2015 von den noch verbliebenen Studienteilnehmern repräsentativ ausgewählt worden, um das Gehirn per MRT und Diffusionsbildgebung (DTI) zu untersuchen.

Whitehall II begann 1985 in London mit rund 10.000 Beamten und öffentlich Angestellten mit dem Ziel, die Auswirkungen von Stress, Lebensstil und sozioökonomischem Status auf die kardiovaskuläre Gesundheit zu prüfen.

Dabei wurde alle fünf Jahre auch der Alkoholkonsum abgefragt. Zu Beginn der Studie waren die Teilnehmer im Mittel 43 Jahre alt, bei der Hirnbildgebung rund 30 Jahre älter. Keiner der 527 Teilnehmer mit MRT und DTI war alkoholkrank, aber 99 (19%) von ihnen frönten einem als riskant definierten Alkoholkonsum mit mehr als 168 g (Männer) oder mehr als 112 g pro Woche (Frauen). Sie tranken wöchentlich also mehr als die Alkoholmenge von acht Flaschen Bier (Männer) bzw. sechs Flaschen Bier (Frauen).

Die riskanten Trinker waren rund fünffach häufiger Raucher (11,1 versus 2,6%), hatten einen etwas höheren Framingham-Score und einen etwas geringeren sozioökonomischen Status als die übrigen Teilnehmer, aber auch einen geringfügig höheren IQ zum Studienbeginn.

Im Schnitt lag der angegebene wöchentliche Alkoholkonsum bei 86 g (Männer) und 51 g (Frauen) und änderte sich bei den einzelnen Teilnehmern über die 30 Jahre hinweg kaum. Die MRT-Untersuchungen zeigten mit steigender Dosis eine abnehmende Dichte der grauen Substanz vor allem im Hippocampus und in Teilen der Amygdala – selbst unter Berücksichtigung von Begleitfaktoren wie Rauchen, körperliche Aktivität, IQ zu Studienbeginn, sozialer Schicht oder Framingham Score.

 Entsprechend wurde der Hippocampus bei höherem Alkoholkonsum häufiger als abnorm atroph beurteilt als bei Abstinenzlern. So stellten die Forscher um Topiwala bei einem Konsum von über 240 g Alkohol pro Woche (Männer und Frauen) 5,8-fach häufiger eine Atrophie fest als bei Abstinenzlern, doch auch bei Werten zwischen 56 und 112 g ergab sich eine signifikante 3,4-fach erhöhte Rate (odds ratio) für einen abnorm geschrumpften Hippocampus.

Solche Teilnehmer konsumierten nach eigenen Angaben eine Alkoholmenge, die lediglich drei bis sechs Flaschen Bier in der Woche entspricht. Frontale Hirnregionen, die als besonders alkoholempfindlich gelten, waren jedoch nicht betroffen. Als signifikant erwies sich der Zusammenhang zwischen Hippocampusatrophie und Alkoholkonsum nur bei Männern, was an der relativ geringen Zahl der Frauen mit moderatem bis hohem Alkoholkonsum gelegen haben könnte. Die DTI-Analyse ergab Hinweise auf mikrostrukturelle Schädigungen vor allem im vorderen Corpus callosum.

Kaum Unterschiede bei der kognitiven Leistung

Bei einer Reihe kognitiver Tests gab es in der letzten Untersuchung keine Unterschiede zwischen Personen mit hohem Alkoholkonsum und Abstinenzlern. Allerdings war das Ausgangsniveau bei den Freunden eines guten Tropfens deutlich höher als bei den Alkoholverächtern, im Umkehrschluss heißt das, Erstere hatten deutlich stärker abgebaut.

Ein signifikant stärkerer geistiger Abbau ließ sich jedoch nur für das lexikalische Gedächtnis nachweisen. Sollten die Teilnehmer innerhalb einer Minute möglichst viele Worte aufzählen, die mit A beginnen, gelang dies den Alkoholfreunden zum Studienbeginn besser als den Abstinenzlern, zum Studienende jedoch nicht mehr.

Bei semantischen Tests (etwa möglichst viele Tierarten in einer Minute aufzählen) und beim Kurzzeitgedächtnis (20 Wörter merken und wiederholen) fanden die Forscher jedoch keine signifikanten dosisabhängigen Unterschiede über den Zeitverlauf.

Was lässt sich nun aus diesen Daten schließen? Zunächst einmal ist die kognitive Leistung bei 30-jährigem moderatem Alkoholgenuss nicht schlechter, aber auch nicht besser als bei Abstinenzlern. Erstaunlich ist das bessere lexikalische Gedächtnis im mittleren Lebensalter bei Personen mit einem Alkoholkonsum von über 112 g/Woche. Dazu zählten immerhin rund 40% der Teilnehmer. Dafür gibt es eigentlich keine plausible Erklärung.

Die Studienautoren erwähnen jedoch einen gewissen Lerneffekt bei den kognitiven Tests über die Zeit hinweg. Möglicherweise war dieser bei Personen mit einem schlechteren Ausgangsniveau höher als bei den ohnehin schon Guten, die das Testprozedere sofort begriffen. In diesem Fall wäre der beschleunigte kognitive Abbau bei moderatem Alkoholkonsum schlicht ein Artefakt.

 Bedenklicher ist da schon die dosisabhängige Hippocampusatrophie. Ob der Hippocampus bei den Alkoholkonsumenten tatsächlich stärker geschrumpft ist als bei den Abstinenzlern, lässt sich jedoch nicht sagen, da nur eine Messung existiert – und dies ist eine der größten Schwachstellen der Studie. Vielleicht war das Hippocampusvolumen, aus welchen Gründen auch immer, schon von Studienbeginn an bei den Alkoholkonsumenten deutlich geringer.

Wie in allen solchen Studien darf zudem angezweifelt werden, dass der berichtete Alkoholkonsum mit dem tatsächlichen übereinstimmt. In der Regel wird doppelt so viel getrunken wie in Umfragen zugegeben. Letztlich bleibt die Feststellung, dass zumindest nach diesen Daten Alkohol auch in geringen bis moderaten Mengen keine positiven Auswirkungen auf das Gehirn hat. Die Frage, ab welcher Menge die Droge schadet, dürfte jedoch weiterhin Generationen von Ärzten und Forschern beschäftigen.

Lesen Sie dazu auch den Kommentar: Alkoholkonsum: Beunruhigende Resultate

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