In der Schwangerschaft

Gestresste Mütter, ängstliche Kinder

Ist die Mutter während der Schwangerschaft ständig Stress oder Gewalt ausgesetzt, kann das gravierende Folgen für die Gehirnentwicklung des Kindes haben: Neugierde, Lernfähigkeit und psychische Gesundheit leiden.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Stress in der Schwangerschaft beeinflusst die Entwicklung von Gehirn und Immunsystem des Babys.

Stress in der Schwangerschaft beeinflusst die Entwicklung von Gehirn und Immunsystem des Babys.

© pololia - Fotolia

KÖLN. Trägt die hohe Gewaltbereitschaft in vielen Kulturen und Gesellschaften mit dazu bei, dass sie nicht vorankommen? Für den Traumaexperten Professor Thomas Elbert von der Universität Konstanz ist dieser Gedanke gar nicht so abwegig.

Seine Feldstudien legen zusammen mit neuen molekularen Erkenntnissen und Tierexperimenten nahe, dass Gewalterfahrungen der Mutter während der Schwangerschaft sowie Stress und Missbrauch in der frühen Kindheit Gehirne entstehen lassen, die in einer modernen Wissensgesellschaft Probleme haben.

Wie belastende Erfahrungen Spuren in Geist, Gehirn und sogar im Genom hinterlassen, wird Elbert am 29. April beim Neurologen- und Psychiatertag in Köln berichten.

Weichen im Mutterleib gestellt

Nach aktuellen Forschungsergebnissen, so Elbert, werden bereits wichtige Weichen im Mutterleib gestellt. Erlebt die Mutter während der Schwangerschaft anhaltend Stress und Gewalt, beeinflusst dies massiv die Entwicklung von Gehirn und Immunsystem: Eine überaktive maternale Stressachse verändert die Methylierung einer Vielzahl fetaler Gene und regulatorischer Sequenzen.

Betroffen sind dabei vor allem DNAAbschnitte für die Gehirnentwicklung und fürs Immunsystem. Die Veränderungen sind wahrscheinlich geeignet, um das Kind an eine gewaltgeprägte Umgebung möglichst gut zu adaptieren.

Das Immunsystem wird darauf ausgerichtet, besser mit Verletzungen und Entzündungen fertig zu werden, das Nervensystem soll Gefahren rasch erkennen und vermeiden.

Heraus kommt dann oft ein Kind, das eher ängstlich ist und schlecht schläft, aus diesem Grund eine Bedrohung aber rasch wahrnimmt und bei Gefahren schnell reagiert.

Dieser Weg wird dann häufig in der frühen Entwicklung verstärkt, wenn das Kind auf der Welt ist und tatsächlich Gewalt und Missbrauch erfährt. Forscher um den Traumaexperten konnten in brasilianischen Favelas und den Townships von Südafrika je nach Art der belastenden Ereignisse typische Methylierungsmuster feststellen - zum Teil über mehrere Generationen hinweg.

So lassen sich bei den Enkeln noch etwa zehn Prozent der stressbedingten epigenetischen Veränderungen nachweisen, die bei den Großeltern aufgetreten sind.

Gehirn schießt, bevor es nachdenkt

Welche Bedeutung diese Veränderungen haben, erläutert Elbert an einem Beispiel: Stolpern wir über einen Stock, der wie eine Schlange aussieht, erschrecken wir zunächst und springen zur Seite. Dieser Abwehrmechanismus reagiert sehr schnell und entzieht sich unserer Kontrolle.

Es dauert hingegen einige Zeit, bis das Gehirn die Information richtig eingeordnet hat und erkennt, dass keine Gefahr vorliegt. Ist das Gehirn nun auf eine gefährliche Umgebung ausgerichtet, dominiert die schnelle, reflexartige Informationsverarbeitung zulasten einer gründlichen Analyse der Lage: Das Gehirn "schießt", bevor es nachdenkt.

Ein solcher Mensch neigt kaum dazu, seine Umgebung vorbehaltlos zu erkunden. Für den Wissenserwerb ist dieser Mechanismus daher eher nachteilig: Wer sich ständig bedroht fühlt, kann kaum lernen, sich nicht gut konzentrieren. Neugier, Wissensdrang, Bereitschaft für Neues sind damit schlecht zu vereinbaren.

Deutlich beeinträchtigt ist oft auch das Arbeitsgedächtnis. Die Kinder sind zwar an die Situation in der Familie gut angepasst, "später im Beruf haben sie aber ein Problem, wenn sie hochfunktional sein sollen und ihre Aufmerksamkeit steuern müssen, ohne ständig auf vermeintliche Bedrohungen zu reagieren", so Elbert im Gespräch mit der "Ärzte Zeitung".

Der Psychologe versucht bei Projekten in Entwicklungsländern wie Tansania, Eltern und Lehrern klar zu machen, dass sie sich und ihrer Gesellschaft nichts Gutes tun, wenn sie Kinder mit Gewalt erziehen.

Nachteile für Migranten?

Migranten, die aus Kulturkreisen kommen, in denen Kinder noch oft geschlagen werden, müssen auch aus diesen Gründen in Europa mit deutlichen Nachteilen rechnen: Benötigt werden auf dem Arbeitsmarkt Menschen mit starkem Arbeitsgedächtnis, guter Emotionsregulation, Lernwillen und Neugier.

"Die darf ich den Kindern nicht rausprügeln, sonst haben sie in dieser Gesellschaft keine Chance."

Sind die belastenden Erfahrungen nicht allzu gravierend, bietet ein Gehirn, das auf Gefahr und Bedrohung ausgerichtet ist, seinen Besitzern durchaus auch in anderen Bereichen Vorteile. So können solche Menschen oft Stimmungen und soziale Signale besser erkennen als andere - etwa weil sie lernen mussten, wann der betrunkene Vater eine Gefahr darstellt.

Bei starken Missbrauchs- und Gewalterfahrungen in der Kindheit drohen jedoch psychische Probleme wie eine Borderline-Störung, Depression, Alkohol- und Drogenkonsum oder eine posttraumatische Belastungsstörung.

Dies, so Elbert, ist vor allem dann der Fall, wenn die Stresserfahrung früh oder gar schon im Mutterleib beginnt.

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