Nahrungsergänzung

Hirnschaden durch zu viel Selen

Fast blind und dement kommt eine Frau um die 50 zum Arzt. Dieser findet das Problem: Offenbar hat sie zu lange zu viele Selenpillen geschluckt. Ihr Gehirn trägt bleibende Schäden davon.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Nahrungsergänzungsmittel sind in der Bevölkerung sehr beliebt. Zunehmend werden Ärzte auch mit Schäden durch solche Mittel konfrontiert.

Nahrungsergänzungsmittel sind in der Bevölkerung sehr beliebt. Zunehmend werden Ärzte auch mit Schäden durch solche Mittel konfrontiert.

© pridannikov / stock.adobe.com

SOUTHAMPTON. Viel hilft viel, denkt der medizinische Laie; die Dosis macht das Gift, weiß der Arzt.

Dennoch haben Immunologen um Dr. William Rae von der Uniklinik in Southampton lange gerätselt, was bei einer Frau im Alter von etwas über 50 Jahren zu einer progredienten Seh- und Gedächtnisstörung führte (JAMA Neurol; online 02.07.2018).

Die Sehschärfe war extrem eingeschränkt, zudem konnte sie im Ishihara-Farbtest keine Zahlen mehr erkennen.

50-fach erhöhter Selenwert

Die FLAIR-Bildgebung offenbarte eine ausgeprägte Leukenzephalopathie, das EEG war hingegen normal. Auch die üblichen Labortests blieben unauffällig: Weder gab es Hinweise auf eine Infektion noch auf eine Stoffwechselstörung.

Vitamin-B12- und Folsäurewerte lagen im Normbereich, ebenso die Konzentrationen anderer Vitamine sowie von Mineralien und Spurenelementen wie Zink, Kupfer und Magnesium.

Die Immunologen untersuchten die Frau zudem auf eine Autoimmunenzephalopathie; diverse Antikörperanalysen gaben darauf ebenfalls keine Hinweise. Auch genetische Analysen auf erblich bedingte Erkrankungen, zu denen das Krankheitsbild passen könnte, verliefen negativ.

Auf die richtige Spur führte dann der Hinweis der Frau, regelmäßig Selen-Supplemente einzunehmen. Die Ärzte bestimmten daraufhin den Selenwert – dieser lag mit 5370 Mikrogramm pro Liter etwa 50-fach über der Norm (63–158 µg/l).

Lange und viele Selentabletten genommen

Die Patientin gab zu, schon lange frei verkäufliche Selenpräparate einzunehmen. Meist habe sie täglich nur eine Tablette mit 200 Mikrogramm eingenommen.

Sechs Monate vor der Klinikaufnahme habe sie die Dosis auf sechs bis acht Tabletten (1200–1600 Mikrogramm) pro Tag gesteigert. Sie sei davon ausgegangen, dass Selen ihr Immunsystem unterstütze.

Die Angaben klangen halbwegs plausibel: In einer Blutprobe, die ein Jahr vor dem Ereignis entnommen worden war, lagen die Selenwerte mit 193 Mikrogramm pro Liter nur wenig über dem Normbereich.

Die Ärzte um Rae rieten zum sofortigen Selenentzug, worauf die Symptome mit sinkenden Selenspiegeln zurückgingen. Zwei Jahre später hatte die Frau keine Beschwerden mehr, die sich auf die Selenintoxikation zurückführen ließen, auch der Selenspiegel war mit 170 Mikrogramm pro Liter nur noch unwesentlich erhöht.

Im MRT zeigten sich kaum noch Veränderungen der weißen Substanz, allerdings war nun eine ausgeprägte Hirnatrophie erkennbar, welche die Ärzte auf die Intoxikation zurückführten.

Keine Effekte von Selen in Präventionsstudien

Gedächtnis- und Sehprobleme bei einer Selenvergiftung wurden schon öfter beobachtet, so Rae und Mitarbeiter, allerdings sei bislang noch keine Leukenzephalopathie unter einer solche Intoxikation beschrieben worden.

Eindeutig beweisen können die Ärzte natürlich nicht, dass die Symptome primär oder ausschließlich durch Selen verursacht worden sind. Möglicherweise waren die Selentabletten auch noch mit anderen Substanzen kontaminiert, dies ließ sich jedoch nicht mehr überprüfen.

Zudem zeigte die Frau nicht alle typischen Zeichen einer Selenvergiftung, wie Haarausfall oder Nagelwachstumsstörungen. Mangels anderer Erklärungen sowie aufgrund der extrem erhöhten Selenwerten und des Rückgangs der Symptomatik nach dem Stopp der Supplementierung gehen die Ärzte aber davon aus, dass sowohl die Symptome als auch die Leukenzephalopathie durch den übermäßigen Konsum von Selentabletten bedingt waren.

Selen wird auch in Deutschland häufig in Dosierungen von 200 Mikrogramm pro Tablette frei verkäuflich angeboten. Das essenzielle Spurenelement soll für Haut und Haare sowie das Immunsystem gut sein.

Selen wurden lange Zeit auch krebs- und herzkreislaufpräventive Wirkungen zugeschrieben. Diese ließen sich in großen Studien aber nicht belegen.

Da Nahrungsergänzungsmittel in der Bevölkerung sehr beliebt sind, werden Ärzte zunehmend auch mit Schäden durch solche Mittel konfrontiert, schreiben die Ärzte um Rae.

Es kann also nicht schaden, bei rätselhaften Symptomen und Befunden gezielt nach Supplementen zu fragen.

Ihr Newsletter zum Thema
Mehr zum Thema

Eine schwierige Entscheidung

Schlaganfall: Das sind Grenzfälle der Thrombolyse

Prognose im ersten Lebensjahr

Welche Kinder holen Entwicklungsverzögerungen auf – und welche nicht?

Das könnte Sie auch interessieren
Was die MS-Behandlung auszeichnet

© Suphansa Subruayying | iStock

Lebensqualität

Was die MS-Behandlung auszeichnet

Anzeige | Merck Healthcare Germany GmbH
Unsichtbare MS-Symptome im Fokus

© AscentXmedia | iStock

Lebensqualität

Unsichtbare MS-Symptome im Fokus

Anzeige | Merck Healthcare Germany GmbH
Prognostizierbares Therapieansprechen?

© Stockbyte | gettyimages (Symbolbild mit Fotomodellen)

Antidepressiva

Prognostizierbares Therapieansprechen?

Anzeige | Bayer Vital GmbH
Depression und Schmerz gehen häufig Hand in Hand

© brizmaker | iStock (Symbolbild mit Fotomodell)

Depressionsscreening

Depression und Schmerz gehen häufig Hand in Hand

Anzeige | Bayer Vital GmbH
Kommentare
Sonderberichte zum Thema

Chronisch kranke Kinder

Mangelernährung frühzeitig erkennen und konsequent angehen

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: Danone Deutschland GmbH, Frankfurt/Main
7-Jahres-Daten belegen günstiges Nutzen-Risiko-Profil von Ofatumumab

© Vink Fan / stock.adobe.com

Aktive schubförmige Multiple Sklerose

7-Jahres-Daten belegen günstiges Nutzen-Risiko-Profil von Ofatumumab

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: Novartis Pharma GmbH, Nürnberg

ADHS im Erwachsenenalter

Wechseljahre und ADHS: Einfluss hormoneller Veränderungen auf Symptomatik und Diagnose

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: MEDICE Arzneimittel Pütter GmbH & Co. KG, Iserlohn
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Jetzt neu jeden Montag: Der Newsletter „Allgemeinmedizin“ mit praxisnahen Berichten, Tipps und relevanten Neuigkeiten aus dem Spektrum der internistischen und hausärztlichen Medizin.

Top-Thema: Erhalten Sie besonders wichtige und praxisrelevante Beiträge und News direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen

Eine schwierige Entscheidung

Schlaganfall: Das sind Grenzfälle der Thrombolyse

Lesetipps
Sieht lecker aus und schmeckt — doch die in Fertigprodukten oft enthaltenen Emulgatoren wirken proinflammatorisch. Ein No-Go für Patienten mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen.

© mit KI generiert / manazil / stock.adobe.com

Emulgatoren in Fertigprodukten

Hilfreich bei Morbus Crohn: Speiseeis & Co. raus aus dem Speiseplan!

Checkliste Symbolbild

© Dilok / stock.adobe.com

Auswertung über Onlinetool

Vorhaltepauschale: So viele Kriterien erfüllen Praxen laut Honorarvorschau