In Designer-Klamotten zum Traumhaus fliegen

BERLIN (ddp). Den Computer hochfahren und die Kaffeemaschine an - das waren morgens seine ersten Handgriffe. "Ich bin ein PC-Junkee", gesteht Oliver Haardt. Irgendwann ist ihm das normale Leben entglitten, eine Online-Welt ersetzte zunehmend die Realität.

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Bis vor Kurzem verbrachte Oliver den ganzen Tag mit Nataniel und Tonje. Die zwei sind keine echten Menschen, mit denen man frühstückt, telefoniert oder streitet. Es sind selbst erdachte Spielfiguren, die nur virtuell existieren. "World of Warcraft" heißt die Welt, in die sich der 32-Jährige immer mehr verkroch. Die Gemeinschaft der Online-Rollenspieler ersetzte innerhalb vor zwei Jahren seinen alten Freundeskreis. Sie bestimmte seinen Tagesrhythmus und ließ ihn die Realität vergessen.

Wie groß die Gefahr dieser virtuellen Welten allerdings tatsächlich ist, sei empirisch kaum erforscht, sagt Tilo Hartmann, Kommunikationswissenschaftler aus Erfurt: "Das Phänomen ist noch so neu, dass die Forschung hinterherhinkt." Über die Faszination, die die Spiele ausüben, lässt sich allerdings einiges sagen. "Probleme lassen sich hier per Knopfdruck lösen", erklärt Hartmann. In "Second Life" etwa fliegen die Spieler als Avatare zu ihren Traumhäusern. Die Figuren lassen sich nach Belieben kreieren, ohne jeden Makel und mit übernatürlichen Fähigkeiten.

"Ein erfolgreiches Spiel kann enorm selbstwertsteigernd sein", ergänzt Verena Verhoeven von der Caritas in Neuss. Die Sozialtherapeutin kümmert sich eigentlich um Glücksspielsüchtige. Zunehmend wenden sich aber auch Onlinespieler und deren Angehörige an sie. "Vorübergehend können die Spiele sogar eine stabilisierende Wirkung haben", sagt Verhoeven. Jugendliche in schwierigen familiären Verhältnissen könnten in diesen Welten Halt finden.

"Verlässt etwa ein Elternteil die Familie, bleibt die Gemeinschaft der Spieler bestehen", erläutert die Therapeutin. Oder der Spieler erlebt, dass er in der virtuellen Welt Erfolge hat, die er in der Realität nicht vorweisen kann. Doch genau das könne zu suchtähnlichem Verhalten führen, sagt Tilo Hartmann: "Wenn das Spielen zwanghaft wird und schrittweise andere Aktivitäten verdrängt." Oliver Haardt vernachlässigte über die Online-Abenteuer außer seinen Freunden auch sein Jurastudium. "Ich hab‘ meine gesamten Ersparnisse aufgebraucht und so lange gespielt, bis mir nachts die Augen wehtaten."

Wer in seinem Umfeld ähnliche Verhaltensweisen beobachtet, sollte die Betroffenen ansprechen, rät Verena Verhoeven. Oliver haben die Mitbewohner in seiner WG darauf hingewiesen, dass er sein Leben Stück für Stück zerstört. Irgendwann hat er sich dann selbst gefragt, wie lange er noch so weiterleben kann. Daraus hat der Jurastudent Konsequenzen gezogen. Inzwischen hat er beide Staatsexamen bestanden.

Infos und Beratungshilfe für Spielsüchtige: www.caritas-suchthilfe.de; www.blaues-kreuz.de; www.spielsucht.net

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