INTERVIEW

Kurze Reha, radfahren, mit Hunden Gassi gehen - Schritt für Schritt sollen Pummelchen abspecken

Wie kann adipösen Kindern am besten beim Abnehmen geholfen werden ? Wochenlange stationäre Therapien bringen oft unbefriedigende Ergebnisse. Nur Ratschläge zu geben, etwa mehr Sport zu machen, ist auch keine Option. Ein neues Therapiekonzept erläutert der Kinder- und Jugendarzt Professor Hans Ruder vom Interdisziplinären Therapiezentrum Caritas-Haus Feldberg im Hochschwarzwald im Gespräch mit Philipp Grätzel von Grätz von der "Ärzte Zeitung". Die "Integrierte Sequentielle Rehabilitation" setzt auf kurze stationäre Aufenthalte und bezieht das Umfeld der Kinder mit ein.

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Ärzte Zeitung: Warum stehen Sie einer mehrwöchigen stationären Rehabilitation bei Kindern mit Adipositas kritisch gegenüber?

Ruder: Das Standardverfahren einer vier- bis achtwöchigen stationären Rehabilitation zeigt anfangs gute Erfolge. Die Kinder lernen in diesen Wochen sehr viel, es können viele gute Entwicklungen angestoßen werden. Zuhause kommen sie dann aber wieder in ihr gewohntes Umfeld und sind dort allein. Es besteht die Gefahr, daß die erzielten Erfolge verpuffen.

Ärzte Zeitung: Wie kann das vermieden werden?

Ruder: Wir setzen auf ein etwas anderes Konzept, die Integrierte Sequentielle Rehabilitation. Ziel ist, in einer medizinischen und psychologischen Analyse die individuellen Faktoren zu ermitteln, die bei den einzelnen Kindern zur Entstehung der Übergewichtigkeit beitragen. Wir erarbeiten dann ganz gezielte Empfehlungen, die zu Hause umgesetzt werden sollen.

Nach einem gewissen Zeitraum kommen die Kinder erneut zu uns, um das Gelernte zu vertiefen und sich mit uns über ihre Erfahrungen auszutauschen. Unser Programm dauert pro Kind zwei bis drei Jahre. In dieser Zeit absolvieren die Kinder im Durchschnitt genau so viele Wochen stationären Aufenthalt wie sie bei einer klassischen Blockrehabilitation anfallen würden. Wir verteilen das aber auf zwei bis vier Kurzaufenthalte.

Ärzte Zeitung: Und das funktioniert besser?

Ruder: Das sequentielle Prinzip ist in Feldberg zum ersten Mal bei Kindern mit Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom angewandt worden. Hier liegen mittlerweile Erfahrungen mit 1600 Familien vor. Wir haben gemeinsamen mit externen Forschern nachgewiesen, daß wir hohe Erfolgsquoten erreichen und wissen aus Rückmeldungen von Patienten, daß der Transfer in den Alltag gelingt. Wir sind davon überzeugt, daß wir das mit der klassischen Rehabilitation am Stück so nicht erreichen würden. Das Programm für adipöse Jugendliche steht erst am Anfang. Wir sind aber überzeugt, daß das sequentielle Prinzip auch hier von Vorteil sein wird.

Ärzte Zeitung: Welche Empfehlungen erhalten die Kinder konkret?

Ruder: Zusammen mit dem Kind und seiner Familie überlegen wir uns individuell, wie wir Änderungen im Lebensstil erreichen können. Wir klären zum Beispiel, ob es möglich ist, mit dem Fahrrad zur Schule zu fahren, ob es Sinn machen könnte, sich einen Hund zuzulegen oder auch nur regelmäßig einen Hund im Tierheim zum Ausführen auszuleihen. Wir sagen also nicht einfach: Macht mehr Sport!

Es ist oft schwer, die Kinder von Anfang an in Sportvereine zu integrieren. Die Freude an der Bewegung muß erst wieder gewonnen werden. Genauso bei der Ernährung: Wenn die Lebensumstände der Familie so sind, daß die Kinder nach der Schule erst einmal allein sind, dann versuchen wir zu vermitteln, daß der Kühlschrank nicht nur mit Wurst und Käse gefüllt wird, sondern auch mit geschälten Möhren und Ähnlichem. Das sequentielle Prinzip führt hier zu einer Politik der vielen kleinen Schritte.

Ärzte Zeitung: Wie halten Sie in der Zeit zwischen den stationären Aufenthalten Kontakt zum Umfeld des Kindes?

Ruder: Zum einen legen wir Wert auf einen engen Kontakt zu den einweisenden Kinder- oder Jugendärzten. Sie werden über die Zielvereinbarungen, die wir mit den Kindern treffen, informiert, und auch über die speziellen Faktoren, die bei dem jeweiligen Kind besondere Bedeutung haben. Die Kinderärzte überwachen außerdem Größe und Gewicht, übernehmen also für uns einen Teil des Therapiemonitorings.

Es gibt darüber hinaus alle drei bis sechs Monate einen strukturierten Kontakt zwischen dem Kind und seiner Familie und unserer Einrichtung per Brief, Telefon oder Mail, um die Umsetzung der Zielvereinbarungen zu besprechen und die Ziele gegebenenfalls zu modifizieren. Eine direkte Kontrolle der Umsetzung gibt es nicht. Wir erwarten aber, daß die Familie mitarbeitet und ehrlich angibt, wo die Schwierigkeiten sind.

Ärzte Zeitung: In welchem Alter sollten die Kinder zu Ihnen kommen, und wer kann kommen?

Ruder: Generell gilt, daß adipöse Kinder so früh wie möglich behandelt werden sollten. Vor der landläufigen Meinung, daß sich das "rauswächst", können wir nur warnen. In Fachkreisen weiß man heute, daß das spätestens ab dem fünften Lebensjahr nicht mehr gilt. Die Behandlung bei Adipositas in der Pubertät ist sehr viel schwieriger als bei Kindern, und Folgeschäden wie Gelenkerkrankungen, Bluthochdruck oder eine diabetische Stoffwechsellage liegen dann schon häufig vor.

In die Integrierte Sequentielle Rehabilitation können Kinder ab dem 5. bis zum 15. Lebensjahr aufgenommen werden. Hinsichtlich der Kostenübernahme besteht eine Vereinbarung mit der Barmer Ersatzkasse, die ihren Versicherten die Integrierte Sequentielle Rehabilitation anstelle einer einmaligen stationären Rehabilitation anbietet. Das Programm steht aber auch Versicherten aller anderen Kostenträger zu denselben Konditionen offen.

Weitere Informationen zu dem Verfahren: http://www.caritas-haus-feldberg.de/hauptfenster.html oder bei der Barmer Ersatzkasse.



Zur Person

Professor Hans Ruder leitet seit sechs Jahren das Interdisziplinäre Therapiezentrum Caritas-Haus Feldberg. Das in den 20er Jahren gegründete Kindererholungsheim firmiert seit 1995 als Interdisziplinäre Fachklinik für Kinder und Jugendliche. Auf die Idee der Integrierten Sequentiellen Rehabilitation für adipöse Kinder kam Ruder, weil gerade bei hartnäckigen chronischen Erkrankungen wie die Adipositas eine langfristige Änderung des Lebensstils und keine kurzlebigen Erfolge benötigt werden.

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