INTERVIEW

"Man sollte alles tun, damit die Menschen sich zu Lebzeiten zum Thema Organspende äußern"

In jedem Jahr sterben etwa tausend Menschen in Deutschland, während sie auf ein Organ warten. Ein Organspender-Register wäre ein Ansatz, um an dieser Situation etwas zu ändern, sagt Professor Gundolf Gubernatis im Gespräch mit Nicola Siegmund-Schultze von der "Ärzte Zeitung". Zusammen mit Wissenschaftlern aus verschiedenen Fachbereichen hat Gubernatis neue Thesen entwickelt, wie sich der Organmangel mindern ließe.

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Ärzte Zeitung: Sie gehören einer Projektgruppe an, die Ideen entwickelt, wie sich der Organmangel in Deutschland verringern lässt. Ein Vorschlag ist eine Widerspruchslösung. Dabei müssten Menschen, die sich nach dem Tod keine Organe entnehmen lassen möchten, dies zu Lebzeiten schriftlich bekunden. Für viele in Deutschland ist dies ein rotes Tuch.

Professor Gubernatis: Bei den Empfehlungen in unserem Bericht nennen wir Handlungsoptionen, die eine Änderung des Transplantationsgesetzes erforderlich machen. Dazu gehören spektakuläre Vorschläge wie die Einführung der Widerspruchslösung und die Vergütung für Lebend-Organspenden. Es gibt aber auch Handlungsoptionen, die sich unter den jetzigen rechtlichen Rahmenbedingungen umsetzen ließen wie die Beseitigung finanzieller Hindernisse für meldende Krankenhäuser, eine bessere Absicherung von Lebendorganspendern oder die Einrichtung eines bundesweiten Organspenderegisters.

Organmangel ist eine tödliche Tatsache. Deshalb darf es bei dem Thema keine Denk- und Diskussionsverbote geben. In Bezug auf die Widerspruchslösung muss man einfach zur Kenntnis nehmen, dass Länder, die sie haben, mehr Organe explantieren können. Die Widerspruchslösung bedeutet, dass jedem hirntoten Menschen Organe entnommen werden können, sofern er nicht zu Lebzeiten widersprochen hat.

Ärzte Zeitung: Die Forschergruppe plädiert dafür, ein Organspender-Register einzurichten. Erfahrungen aus anderen Ländern wie Schweden, Belgien und die Niederlande zeigen jedoch, dass Register nicht mehr Organspender gebracht haben.

Gubernatis: Aber Klarheit für alle, Angehörige und Kliniken. Das Problem ist, dass sich nur wenige Menschen in die Register eintragen. Damit die Menschen einen Anreiz bekommen, sich für die Organspende zu entscheiden, schlagen wir vor, jenen einen Bonus auf der Warteliste zu geben, die selbst bereit sind, nach ihrem Tod Organe zu spenden und diesen Willen dokumentieren. Dieser Vorschlag wird als Solidarmodell bezeichnet. Mehr als 90 Prozent der Menschen in Deutschland würden selbst ein Organ annehmen, aber nur etwa 68 Prozent wären Umfragen zu Folge mit einer Organentnahme nach dem Tod einverstanden. Nur etwa jeder Zehnte hat einen Organspendeausweis. Diesen Widerspruch könnte das Solidarmodell verringern helfen.

Ärzte Zeitung: Das heißt, man würde Druck von den Angehörigen nehmen.

Gubernatis: Ja, man sollte alles tun, damit die Menschen sich zu Lebzeiten zum Thema Organspende erklären und die Angehörigen von der Zumutung befreit werden, sich in der Phase der Trauer damit zu beschäftigen. Angehörige sollten, darüber war sich die Forschergruppe einig, überhaupt kein Mitspracherecht mehr haben, weil sie bei zunehmender Komplexität der Entscheidung überfordert sind. Selbst Klinikärzte übersehen oft nicht mehr die Konsequenzen gewisser Organ- und Gewebeentnahmen. Deshalb haben wir auch über die enge Zustimmungslösung diskutiert. Sie erlaubt, nur dann Organe zu entnehmen, wenn sich der Gestorbene ausdrücklich zu Lebzeiten mit der Organspende einverstanden erklärt hat. Die Angehörigen hätten dann keine Entscheidungsbefugnis. Mehr Organe bringt aber nur die Widerspruchslösung.

Ärzte Zeitung: Zur Zeit ist die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) in Deutschland zuständig für die Koordinierung der Organspende. Die Arbeitsgruppe hat sich für die Aufhebung des Monopols zu Gunsten mehrerer, dezentraler Organisationen ausgesprochen. Welche Ideen stecken dahinter?

Gubernatis: Monopole sind grundsätzlich schlecht und widersprechen dem Leitprinzip unseres Gesundheitswesens, Qualitätswettbewerb und konkurrierende Dienstleister zuzulassen und das Geld der Leistung folgen zu lassen. Die DSO hat das Monopol für die Koordinierung der Organspende. Sie kann Art und Höhe der Finanzierung quasi diktieren, denn alle sind ja per Gesetz verpflichtet, mit der DSO zusammenzuarbeiten. Bei regionalen Organisationen und mehreren Anbietern könnten diese in einen Qualitätswettbewerb eintreten.

Ärzte Zeitung: Dieser Vorschlag ist ein Teil der stärkeren Ökonomisierung und Privatisierung, wie sie die Projektgruppe für den Bereich Organspende vorschlägt. Würden Anbieter für die Koordinierung der Organspende danach bezahlt, wie viele transplantierbare Organe sie rekrutieren, könnte der Eindruck eines Kopfgelds entstehen.

Gubernatis: Der Begriff "Kopfgeld" verstellt die Sicht darauf, dass überall eine überprüfbare, qualitätsgerechte Honorierung, auch in Hinblick auf die Menge ärztlicher Dienstleistungen, in das Gesundheitsversorgungssystem einziehen soll und muss. Man muss unterscheiden zwischen einer erbrachten Dienstleistung als solcher und dem gewünschten Ergebnis, zum Beispiel der Diagnose Hirntod. Bei der derzeit praktizierten Regelung erhält der zweite Hirntod-Diagnostiker sein Honorar von der DSO nur dann, wenn er den Hirntod feststellt. Das halte ich für einen skandalösen Anreiz. Im Gegensatz dazu ist eine erbrachte diagnostische Dienstleistung, unabhängig vom Ergebnis, in jedem Falle zu bezahlen.

Ärzte Zeitung: Um mehr Organe verpflanzen zu können, wird vorgeschlagen, zwar der postmortalen Spende wie bisher Vorrang vor der Lebendorganspende zu geben, für die Lebendspende aber auch Menschen zuzulassen, die sich dem Empfänger nicht eng persönlich verbunden fühlen. Außerdem sollen die Spender anders als jetzt eine Aufwandsentschädigung erhalten für Schmerzen, Sorgen und Zeitaufwand.

Gubernatis: Dies ist wirklich nur als Ultima Ratio zu sehen, wenn alle anderen Optionen ausgeschöpft sind. Der Vorschlag einer Aufwandsentschädigung basiert auf der Erfahrung, dass viele Empfänger von lebend gespendeten Organen sich durch die lebenslange Dankbarkeit gegenüber dem Spender, zu der sie sich verpflichtet sehen, belastet fühlen. Das ist der Schattenpreis, den sie für das Organ zahlen. Wenn die Spender Geld für ein Organ erhielten, hätte dies einen distanzierenden Effekt, der die Autonomie der Beteiligten stärken könnte. Wichtig wäre eine klare staatliche Regelung zum Ausschluss von Organhandel, damit das Geld auch wirklich dem Spender zugute kommt.

Außerdem sollten Überkreuzlebendspenden möglich sein, also ein Austausch von Organen zwischen zwei Spender-Empfängerpaaren mit dem Ziel, eine Blutgruppenverträglichkeit herzustellen. Das wäre eine sinnvolle Erweiterung des Spenderkreises, die allerdings mit dem jetzigen Gesetz nicht ohne weiteres zu vereinbaren ist.

Lesen Sie dazu auch: Ideen gegen Organmangel

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