"Menschlich ist das eine Katastrophe, medizinisch eine Herausforderung"

BAD EMSTAL (mwo). Ängstlich, aber neugierig liegt die zehnjährige Suada auf der Liege. Ein Pieks, unterdrückte Tränen - wenig später läuft die Infusion mit Glutathion. Das auch gegen Krebs eingesetzte Mittel bindet Schwermetalle und überwindet als körpereigene Substanz dabei auch die Blut-Hirn-Schranke, erklärt der Umweltmediziner Klaus-Dietrich Runow.

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Runow gilt als einer der Pioniere seines Fachs in Deutschland und leitet das Institut für Functional Medicine und Umweltmedizin (IFU) in Bad Emstal bei Kassel. Seine derzeitigen Patienten: sieben Geschwister zwischen fünf und 15 Jahren mit ihrem Vater Shaban Mustafa aus dem Kosovo.

Die Familie gehört der Volksgruppe der Aschkali an. Von Albanern aus ihrem Dorf Vabrishka vertrieben, lebte die Familie sieben Jahre lang in einem Flüchtlingslager neben den Halden einer Bleimine. Die Luft voller Bleistaub, hatten die Kinder nichts zum Spielen als dreckige Steine und vergiftete Erde.

Im Oktober war Runow auf Bitten der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) in dem Lager. Von 66 Bewohnern untersuchte er die Haare auf Blei und weitere Gifte.

Ergebnis: Die Mustafa-Kinder hatten die höchsten Bleiwerte, die weltweit je gemessen wurden - 1200 Mikrogramm je Gramm Haar. Auch andere Werte, darunter Aluminium, Antimon, Arsen, Beryllium und Cadmium, waren um ein Vielfaches erhöht.

Die Mutter und ein Baby der Familie sind bereits in Folge der Vergiftung gestorben. "Fünf Prozent des Bleis gehen ins Blut, der Rest ins Gewebe, auch ins Gehirn", erklärt Runow. Von den jetzt in Deutschland genommenen Blut- und Urinproben liegen die Ergebnisse noch nicht vor.

"Menschlich ist das eine Tragödie, medizinisch eine Herausforderung", sagt der Arzt. Und politisch ein Skandal, meint die GfbV. Denn das Gift-Lager ist ein Flüchtlingscamp der Vereinten Nationen. Von Beginn an habe seine Organisation vor dem Standort gewarnt, erzählt Paul Polansky, der Leiter des Kosovo-Teams der GfbV (Göttingen).

Anfangs habe es nur ein Übergangslager für anderthalb Monate sein sollen, doch nach sieben Jahren leben noch immer 560 Roma und Aschkali dort, darunter 218 Kinder. 37 Menschen seien bereits gestorben, berichtet Polansky, alle Kinder in ihrer Entwicklung verzögert. Bei 50 Schwangerschaften habe es zwei Totgeburten gegeben, der Rest der Neugeborenen sei geistig oder körperlich behindert.

Die fünfjährige Kasandra verlor zuletzt fast täglich das Bewußtsein und hat fast nur noch geschlafen. Eine Folge des schleichenden Gifts. Ihre Belastbarkeit und ihre Entwicklung entsprechen der einer Zweieinhalbjährigen. Immerhin läuft sie jetzt neugierig übers IFU-Gelände und erobert mit ihren Geschwistern den örtlichen Spielplatz.

"Hygiene, Unterkunft, Ernährung", zählt Umweltmediziner Runow die Schwerpunkte der ersten Woche in Bad Emstal auf. Schrittweise beginnt er nun auch mit der Entgiftungsbehandlung, die außer GfbV und IFU auch aus der Aktion "Ein Herz für Kinder" unterstützt wird.

Am 7. Juni bereits laufen die Visa aus. Ob die Zeit bis dahin reicht, scheint eher fraglich. Runow: "Wir haben es hier mit Superlativen zu tun. Da kann niemand sagen, wie viel Zeit das benötigt." Kollegen in aller Welt seien gespannt.

Sorgen bereitet allen die drohende Rückkehr in das vergiftete Lager. "Unsere Arbeit würde zunichte gemacht, alles finge von vorne an", warnt Runow. Zwar will die UNO das Lager endlich verlegen - doch nur wenige Meter, in Kasernen früherer französischer KFOR-Truppen.

Feste Wände und fließendes Wasser, das wäre zwar ein Fortschritt, doch die Bleibelastung der Luft und der Umgebung blieben gleich. "Ein unglaublicher Plan", kritisiert die GfbV, für den Deutschland nicht wie vorgesehen 500 000 Euro bereitstellen dürfe. Die Menschenrechtler und auch Runow fordern die Umsiedlung an einen entfernteren Ort.

Doch die GfbV bekomme nur wenig Unterstützung, bedauert Polansky. Nicht-Mediziner könnten das Problem der Bleivergiftung schlicht nicht verstehen. "Wir brauchen die Unterstützung von Ärzten."

Weitere Informationen im Internet unter: www.gfbv.de und www.ifu.org

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