HINTERGRUND

Muss ein TIA-Patient sofort eingewiesen werden? ABCD-Score hilft Hausärzten bei rascher Einschätzung

Philipp Grätzel von GrätzVon Philipp Grätzel von Grätz Veröffentlicht:

Eine transitorische ischämische Attacke (TIA) Ernst zu nehmen - diese Mahnung von ihren neurologischen Fachkollegen hören Hausärzte immer wieder. Sie in der Praxis umzusetzen ist aber mitunter schwierig: Denn bei der Diagnose gilt es, die TIA von Differenzialdiagnosen wie Schwindel oder Gangstörungen abzugrenzen. Und beim klinischen Management halten es selbst viele Neurologen für nicht praktikabel, jeden Patienten, bei dem der Hausarzt eine TIA für sehr wahrscheinlich oder sicher hält, stationär einzuweisen.

Gute Hilfestellung bei der Diagnose einer TIA und bei der Entscheidung über das richtige Vorgehen kann der in den vergangenen Jahren in England entwickelte und in Deutschland bisher noch wenig bekannte ABCD-Score leisten. Anhand der vier Parameter Alter, Blutdruck, klinische Symptomatik (clinical symptoms) und Dauer der Symptome errechnet sich ein Score aus maximal sechs Punkten.

Eine hohe Score-Zahl ist ein starker Hinweis auf eine TIA

"Dieser Score ist doppelt hilfreich", sagte Professor Dirk Sander von der Klinik Medical Park in Bad Wiessee im Gespräch mit der "Ärzte Zeitung". Zum einen könne bei Patienten mit einem Score von 5 oder 6 mit nahezu 100-prozentiger Sicherheit davon ausgegangen werden, dass es sich bei einem reversiblen neurologischen Ereignis von weniger als 24 Stunden Dauer tatsächlich um eine TIA handele. Zum anderen sind diese Patienten gleichzeitig jene TIA-Patienten, bei denen in der Folgezeit ein deutlich erhöhtes Schlaganfallrisiko besteht.

Das hat der "Vater" des ABCD-Scores, der Neurologe Professor Peter M. Rothwell von der Universität Oxford in England in einer Studie nachgewiesen: 95 Prozent aller Schlaganfälle, die sich in den ersten sieben Tagen nach einer TIA ereignen, kommen bei jenen Patienten vor, die einen ABCD-Score von 5 oder 6 haben. Knapp 36 Prozent der Patienten mit einem Score von 6 entwickelten innerhalb einer Woche einen Schlaganfall. Bei einem Score von 5 waren es immerhin noch 16 Prozent.

"Daraus lässt sich die Empfehlung ableiten, dass TIA-Patienten mit einem Score von 5 oder 6 sofort in die Klinik geschickt werden sollten, um die TIA von Experten neurologisch abklären zu lassen", betonte Sander. Auch bei einem ABCD-Score von unter 5 ist eine rasche neurologische Abklärung Pflicht. Doch kann diese -eine rasche Verfügbarkeit etwa von Spezialisten und Geräten vorausgesetzt - durchaus auch ambulant erfolgen.

So einfach ist der ABCD-Score
Bei TIA-Patienten gibt es für vier Parameter maximal sechs Punkte

Parameter
Punktzahl
A Alter = 60 Jahre
1
B Blutdruck = 140 mmHg systolisch oder
= 90 mmHg diastolisch
1
C Symptome einseitige Parese
2
Sprachstörung, keine Parese
1
andere Symptome
0
D    Dauer der Beschwerden = 60 min
2
= 10 min, aber, < 60 min
1
< 10 min
0
Quelle: Nervenheilkunde 10 / 2006, Tabelle: ÄRZTE ZEITUNG
Ein hilfreicher Score: die TIA-Bewertung anhand der vier Parameter Alter, Blutdruck, klinische Symptome (clinical symptoms) und Dauer der Symptome.

Die Dringlichkeit richtet sich dabei auch nach individuellen Faktoren: Kardiovaskuläre Begleiterkrankungen oder eine schon bestehende Schlaganfall-Anamnese etwa sollten zur Eile treiben und können bei schwieriger diagnostischer Infrastruktur eine Einweisung auch bei niedrigeren Score-Werten rechtfertigen.

Die beiden wichtigsten Untersuchungen bei TIA-Patienten sind die duplexsonografische Suche nach symptomatischen Stenosierungen der Arteria carotis und die Abklärung einer möglichen kardioembolischen Ursache einer TIA, also etwa Vorhofflimmern. Nicht generell empfohlen wird von Neurologen bisher eine magnetresonanztomographische Untersuchung (MRT) des Gehirns.

Irgendwann könnte sich das vielleicht ändern: Denn in Forschungsarbeiten zeigt sich zunehmend, dass eine Spezialform der MRT, die diffusionsgewichtete Bildgebung (DWI), wichtige Informationen über den Schweregrad einer TIA liefern kann.

Bei 21 bis 67 Prozent der Patienten, die klinisch eine TIA haben, sind in der DWI-Bildgebung kleine ischämische Läsionen zu finden. Das berichtete Sander in einem in der Zeitschrift "Nervenheilkunde" publizierten Artikel (25, 2006, 809).

Der Nachweis solcher Veränderungen scheint erhebliche prognostische Relevanz zu haben: Eine DWI-Läsion bedeutet unabhängig von der Dauer der TIA-Symptome eine Erhöhung des zerebro- und kardiovaskulären Risikos. "Das höchste Risiko weisen Patienten auf, bei denen eine DWI-Läsion vorliegt und bei denen die TIA-Symptome länger als eine Stunde anhalten", so Sander zur "Ärzte Zeitung". Etwa 40 Prozent dieser Patienten entwickeln im Laufe eines Jahres erneut ein zerebrovaskuläres Ereignis. Bei TIA-Patienten ohne DWI-Läsion und mit kürzer andauernden Beschwerden seien es nur knapp 11 Prozent.

Hohe Korrelation zwischen Score und Läsionen im MRT

Der Nachweis der ischämischen Läsionen im MRT bei TIA-Patienten stellt etwa Neurologen vor ein Dilemma. Denn im Prinzip wird dadurch aus einem TIA-Patienten ein Schlaganfallpatient. Allerdings ist es zumindest gegenwärtig praktisch kaum umsetzbar, die TIA-Diagnostik von einer MRT-Untersuchung abhängig zu machen.

Vielleicht ist das auch gar nicht nötig. Denn noch unveröffentlichte Daten aus der Arbeitsgruppe um Rothwell haben Hinweise darauf erbracht, dass es eine hohe Korrelation gibt zwischen einem ABCD-Score von 5 oder 6 und dem Nachweis von ischämischen Läsionen im DWI-MRT. Bewahrheitet sich das, dann gäbe der ABCD-Score nicht nur über die Prognose, sondern auch über das Ausmaß der neurologischen Schädigung Auskunft.

Weitere Infos zu Schlaganfall und transitorische ischämische Attacken finden Sie etwa unter www.dgn.org

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