Profitieren Typ-2-Diabetiker von frühzeitiger Insulintherapie?

Patienten mit metabolischem Syndrom haben aufgrund ihrer Insulinresistenz einen erhöhten Bedarf an körpereigenem Insulin. Zum Typ-2-Diabetiker werden sie erst, wenn die Insulinproduktion nicht mehr ausreicht, den Insulinbedarf zu decken. Ist es sinnvoll, bei diesen Patienten schon frühzeitig mit einer Insulintherapie zu beginnen? Oder sollte Insulin erst angewandt werden, wenn die Behandlung mit oralen Antidiabetika zusätzlich zu Ernährungsumstellung und vermehrter Bewegung nicht mehr ausreicht?

Veröffentlicht:

Stephan Martin und Werner A. Scherbaum

Patienten mit einer abdominellen Adipositas haben häufig Glukosestoffwechselstörungen sowie erhöhte Lipid- und Blutdruckwerte. Es handelt sich also um ein Symptomcluster - auch unter dem Begriff metabolisches Syndrom bekannt - mit hohem kardiovaskulärem Risiko. Allen diesen Komponenten des metabolischen Syndroms ist gemeinsam, daß sie sich durch Gewichtsabnahme und vermehrte körperliche Aktivität sehr gut positiv beeinflussen lassen.

Auch die zum Typ-2Diabetes führende Insulinresistenz ist bei Patienten mit metabolischem Syndrom meist nachweisbar. Der Typ-2Diabetes entsteht erst dann, wenn die Insulinproduktion nicht mehr ausreicht, den erhöhten Insulinbedarf bei Resistenz auszugleichen.

Daher stellt sich die Frage, ob eine frühe Insulintherapie bei Patienten mit metabolischem Syndrom oder Typ-2-Diabetes sinnvoll ist, oder ob Insulin erst eingesetzt werden sollte, wenn sich der HbA1c mit oralen Antidiabetika nicht ausreichend senken läßt.

CONTRA frühe Insulintherapie

Es gibt mehrere Argumente, die gegen die frühzeitige Anwendung von Insulin sprechen:

  • So läßt sich schon durch nicht-medikamentöse Maßnahmen wie Ernährungsumstellung und vermehrte Bewegung und Sport - also eine Änderung des Lebensstils - der HbA1c-Wert deutlich senken.

Die Ursache für die zunehmende Häufigkeit des metabolischen Syndroms und des Typ-2-Diabetes ist unser Lebensstil: Wir essen zu viel und bewegen uns zu wenig. Insofern sollte eine frühe Therapie überwiegend in der Modifikation dieser Lebensstil-Faktoren liegen und nicht in der Botschaft "Sie brauchen Ihr Leben nicht zu ändern, Hauptsache Sie spritzen die richtige Dosis von Insulin!"

Frühe Insulintherapie bei metabolischem Syndrom?

Contra

  • Zur Beseitigung von Ursachen des Typ-2-Diabetes ist primär wichtig: Lebensstiländerung durch mehr körperliche Bewegung und Ernährungsumstellung.
  • Insulin bewirkt zusätzliche Gewichtszunahme.
  • Angst vor Hypoglykämien unter Insulintherapie führt zu reduzierter körperlicher Aktivität und vermehrter Kohlenhydrataufnahme.

Pro

  • Schnelles Erreichen der Zielwerte.
  • Realisierung der Erkrankung durch „Spritze“.
  • Mögliche pleiotrope Effekte von Insulin.

Mit Insulin lassen sich die Zielwerte zwar schneller erreichen, doch erhöht es das Gewicht zusätzlich.

Die Änderung des Lebensstils bedeutet auch, daß Patienten mehr Eigenverantwortung für ihre Gesundheit übernehmen, was über Jahrzehnte nicht besonders gefördert wurde. Zudem sind die meisten Ärzte nicht darin trainiert, ihre Patienten für eine Änderung der Lebensführung zu motivieren. Viele Patienten haben außerdem den Eindruck, bei Typ-2-Diabetes handele es sich um eine progrediente Erkrankung, an der man sowieso nichts machen könne.

Daß dies jedoch nicht der Fall ist, ist in einigen Studien deutlich geworden. In der Malmö-Präventions-Studie zum Beispiel wurden 41 Personen, bei denen durch OGT-Screening-Untersuchungen (Oraler Glukose-Toleranztest) ein manifester Diabetes entdeckt wurde, motiviert, eine Lebensstiländerung vorzunehmen. Sie erhielten dazu Ernährungsinformationen und wurden zu vermehrter körperlicher Aktivität angespornt.

Dies führte zu einer Gewichtsreduktion von nur etwa drei Prozent - jedoch war es nach sechs Jahren bei der Hälfte der Teilnehmer zu einer kompletten Remission des Diabetes gekommen, das heißt, HbA1c und Blutzuckerwerte lagen wieder im Normalbereich. Diese Studie belegt eindrucksvoll die Möglichkeit zur Sekundärprävention des Typ-2-Diabetes durch Lebensstil-Intervention.

Auch in der United Kingdom Prospective Diabetes Study (UKPDS) bei Patienten mit manifestem Typ-2-Diabetes wurde der HbA1c in den ersten drei Monaten nach Diagnosestellung alleine durch nicht-medikamentöse Maßnahmen von im Mittel 9,2 auf 7 Prozent gesenkt.

  • Ein weiteres Argument gegen eine undifferenzierte frühe Insulintherapie bei Typ-2-Diabetes sind außer den Kosten auch die möglichen unerwünschten Wirkungen. Zu Hypoglykämien kommt es zwar bei insulinbehandelten Typ-2-Diabetikern seltener als bei Typ-1-Diabetikern, jedoch gehen mehr als zwei Drittel der schweren Hypoglykämien bei Typ-2-Diabetes auf das Konto einer Insulintherapie.
  • Außerdem haben verschiedene Studien ergeben, daß es unter einer Insulintherapie zu einer deutlichen Gewichtszunahme kommt. Diese wiederum verstärkt den Circulus vitiosus und fördert die Adipositas als eine der wesentlichen Ursachen des Typ-2Diabetes. Häufig nehmen die Patienten aus Angst vor Hypoglykämien zusätzliche Kohlenhydrate zu sich. Auch führt die Sorge vor Hypoglykämien zu einer weiteren Reduktion der Bewegung. Gewichtszunahmen von bis zu 10 kg bei einer nicht angezeigten Insulintherapie sind keine Seltenheit.

Der Kostenaspekt muß zusätzlich bedacht werden. Denn außer den reinen Kosten für Insulin schlagen auch Spritzutensilien und Teststäbchen für eine häufigere Blutzuckerselbstkontrolle zu Buche.

PRO frühe Insulintherapie

Natürlich gibt es auch Gründe für eine frühe Insulintherapie:

  • Die in den Leitlinien der Deutschen Diabetes-Gesellschaft definierten Zielwerte - HbA1c < 6,5 Prozent, Nüchternblutzucker 80 bis 120 mg / dl - werden häufig bei Patienten, bei denen eine Umstellung der Lebensweise nicht gelingt, auch nicht mit oralen Antidiabetika erreicht.
  • Häufig realisieren die Patienten die Diagnose Typ-2-Diabetes erst richtig, wenn mit einer Insulintherapie begonnen wird.
  • Für eine frühe Insulintherapie sprechen auch antientzündliche Effekte des Hormons. Aus zellkultur- und tierexperimentellen Untersuchungen stammen Erkenntnisse darüber, daß Insulin auch antiinflammatorische Komponenten hat und somit die Entwicklung und Progression besonders von makrovaskulären Komplikationen hemmen könnte. Dies ist jedoch noch nicht in klinischen Studien belegt. Unklar ist bislang, ob nicht schon geringe Insulinkonzentrationen, die keine Zunahme des Körpergewichtes zur Folge haben, ausreichen, diesen antiinflammatorischen Effekt zu vermitteln.

Insulin ist erst auf Stufe 4 des Therapieschemas vorgesehen

Für die klinische Routine kann somit nur auf das in den evidenzbasierten Leitlinien der Deutschen Diabetes Gesellschaft verankerte Stufenschema verwiesen werden, dessen erste Stufe eine Veränderung des Lebensstils vorsieht. Erst wenn diese nicht greift, der HbA1c nach drei Monaten also noch > 7 Prozent liegt, folgen medikamentöse Therapien (Stufen 2 bis 5).

Dabei sollte der Fokus auf der Verbesserung der Insulinwirksamkeit durch Metformin liegen, denn dieses Medikament führt zu keiner Gewichtszunahme. In Studien ist es sogar zur leichten Gewichtsabnahme gekommen.

Auch wenn für die Gruppe der Insulinsensitizer (Pioglitazon, Rosiglitazon) nun erste Langzeitstudien vorliegen, die Hinweise für eine Reduktion von makrovaskulären Ereignissen ergeben haben, kommt es auch hier zu einer Gewichtszunahme von 3 bis 5 kg. Zwar scheint es sich hierbei nicht um eine Zunahme des atherogenen intraabdominellen Fetts, sondern des subkutanen Fetts zu handeln. Trotzdem werden die Bemühungen der Gewichtsreduktion bei diesen Patienten dadurch nicht gefördert.

Wird mit Metformin oder alternativ einer Monotherapie mit einem Alpha-Glukosidasehemmer (Acarbose, Miglitol), Sulfonylharnstoff (etwa Glibenclamid, Glimepirid) oder Glinid (Nateglinid, Repaglinid) nach drei Monaten keine Senkung des HbA1c < 7 Prozent erzielt, sehen die Leitlinien eine Kombinationstherapie aus zwei oralen Antidiabetika vor. Hier kann Metformin, außer mit den bereits erwähnten oralen Antidiabetika, auch mit einem Glitazon (Pioglitazon, Rosiglitazon) kombiniert werden.

Werden die Therapieziele mit einer Zweifachkombination nach drei Monaten nicht erreicht, sollte bei erhöhten Nüchternglukosewerten zusätzlich zur oralen Therapie eine Insulintherapie mit einem Verzögerungsinsulin zur Nacht erfolgen.

Weitere Optionen sind langwirksame Insulin-Analoga wie Insulin glargin oder Insulinglulisin. Bei ausgeprägtem postprandialem Blutzuckeranstieg wird eine präprandiale Applikation von Normalinsulin oder einem kurzwirksamen Insulin-Analogon wie Insulin lispro oder Insulin aspart zu den Hauptmahlzeiten empfohlen.

Gelingt auch mit dieser Therapie keine ausreichende Senkung der Glukosewerte, erhalten die Patienten eine Insulintherapie - entweder als intensivierte konventionelle Insulintherapie (ICT) oder als konventionelle Insulintherapie (CT).

Prof. Dr. Stephan Martin, Prof. Dr. Werner A. Scherbaum, Deutsches Diabetes-Zentrum, Leibniz-Zentrum für Diabetesforschung an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Auf'm Hennekamp 65, 40225 Düsseldorf, Tel.: 0211 / 3382-232, Fax: 3382-360, E-Mail: martin@ddz.uni-duesseldorf.de

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