Raumfahrer im All

Was Schwerelosigkeit mit dem Hirn macht

Haben Astronauten wieder festen Boden unter den Füßen, zeigen sich die Auswirkungen der fehlenden Gravitation: Nicht nur die Muskeln leiden, auch das Gehirn funktioniert nicht mehr so, wie es sollte.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Ein Aufenthalt im All wirkt sich bei Astronauten vor allem auf die Feinmotorik aus.

Ein Aufenthalt im All wirkt sich bei Astronauten vor allem auf die Feinmotorik aus.

© Yuri Arcurs / stock.adobe.com

Wenn Raumfahrer nach einiger Zeit in der Schwerelosigkeit wieder festen Boden unter den Füßen haben, dann fällt es ihnen nicht nur schwer, mangels Muskelmasse auf eben diesem zu stehen, sie haben auch Probleme mit ihren Bewegungsabläufen. Vor allem bei der Feinmotorik zeigen sich oft deutliche Defizite, was darauf schließen lässt, dass das Kleinhirn nicht mehr so funktioniert, wie es eigentlich sollte.

Was jedoch genau mit dem Gehirn unter anhaltender Schwerelosigkeit passiert, ist noch relativ wenig erforscht. Wissenschaftler um Dr. Angelique van Ombergen vom Raumforschungszentrum in Antwerpen haben in einer Übersichtsarbeit versucht, die bislang eher spärlichen Erkenntnisse zusammenzufassen (J Neurol 2017; doi: 10.1007/s00415-017-8427-x) Diese deuten in der Tat auf einen gewissen Umbau im Zerebellum, dem vestibulären System und den damit verbundenen kortikalen Regionen.

"Weltraumanaloga" für Forschung auf der Erde

Ein Auslöser dafür könnte sein, dass die Otolithen im Innenohr in der Schwerelosigkeit kaum noch Beschleunigungen wahrnehmen. Dieser fehlende sensorische Input wirkt sich möglicherweise auf den Nucleus vestibularis und die damit verbundenen Hirnregionen aus. Gleichzeitig könnten veränderte Bewegungsabläufe und eine fehlende räumliche Orientierung dem Kleinhirn zusetzen.

Solche Veränderungen zu messen, ist jedoch schwierig. Auf Weltraummissionen wird in der Regel kein MRT mitgenommen. Forscher sind daher auf weniger aussagekräftige Methoden oder Schwerelosigkeitssimulationen angewiesen. Zu Letzteren zählen vor allem Parabelflüge mit maximal 20 Sekunden dauernden gravitationsfreien Intervallen: Ein Flugzeug schießt steil im Winkel von bis zu etwa 47 Grad nach oben und fällt im selben Winkel wieder nach unten. Im oberen Teil dieser Parabelbahn herrscht weitgehend Schwerelosigkeit, im unteren Teil erhöhte Gravitation. Zwar werden pro Flug bis zu 30 Parabeln absolviert, es liegt aber auf der Hand, dass damit keine Langzeituntersuchungen möglich sind.

Langfristige Aspekte der Mikrogravitation lassen sich etwa beim Bettneigungstest studieren: Freiwillige liegen über eine Woche oder länger in einem Bett, das mit dem Kopfende um etwa sechs Grad nach unten geneigt ist. Dies verursacht eine ähnliche Flüssigkeitsverteilung im Gehirn wie unter Schwerelosigkeit, die Bewegungsarmut mag zudem den fehlenden oder verzerrten motorischen Input im Weltall imitieren. Allerdings bleibt das vestibuläre System ungestört. Für menschliche Versuchskaninchen nicht viel komfortabler ist es, in einem Trockenanzug in körperwarmes Wasser geworfen zu werden. Hierbei kommt es wie im Weltraum zu einer Zentrierung von Körperflüssigkeiten sowie zu Bewegungsarmut, auch fehlen feste Strukturen. Allerding kann keines dieser "Weltraumanaloga" die Bedingungen unter Schwerelosigkeit wirklich gut nachahmen, geben die Forscher um van Ombergen zu.

Störungen im Zerebellum und der Insel

Dennoch wurden damit einige Versuche gemacht, etwa zu EEG-Aufzeichnungen. So kam es mit dem Bettneigungstest zu einer Verstärkung von Alpha- Signalen im EEG, diese Änderungen wurden auch bei Weltraumflügen beobachtet, in denen ein EEG an Bord war. Dabei nahm die Alpha-Aktivität vor allem in parietookzipitalen und sensomotorischen Hirnarealen zu. Auf der anderem Seite fanden Forscher bei den Warmwasserversuchen eher eine Abnahme der Alpha-Aktivität und bei Parabelflügen eine Reduktion der Beta-Aktivität. Hier spielt vermutlich auch die unterschiedliche emotionale und kognitive Belastung mit: Der Astronaut ist eher gestresst und angespannt, wer im warmen Wasser vor sich hindümpelt eher entspannt und gelangweilt.

Aussagekräftiger sind MRT-Untersuchungen direkt nach einem Raumflug. Einem Team um van Ombergen ist es gelungen, einen 44-jährigen russischen Kosmonauten neun Tage nach einem 169-tägigen Aufenthalt auf der internationalen Raumstation in eine Kernspinröhre zu schieben (Brian Struct Funct 2016; 221(5): 2873–2876). Sie hatten bereits Aufnahmen einer funktionellen MRT (fMRT) des Mannes vor dem Raumflug vorliegen und konnten nun vergleichen.

Klinisch zeigte der Kosmonaut bei der Ankunft auf der Erde eine vestibuläre Ataxie und eine gestörte Propiorezeption. Der Schwindel verschwand nach drei Tagen wieder, aber die motorische Koordination war noch deutlich beeinträchtigt. Während der fMRT wurde der Mann gebeten, in Gedanken Tennis zu spielen oder umherzulaufen. Heraus kam eine reduzierte funktionelle Konnektivität in der Inselregion und anderen kortikalen Arealen mit Verbindung zum vestibulären System, auch war die zerebellär-motorische Konnektivität verringert.

Bei fMRT- Untersuchungen nach Bettneigungstest zeigten sich Veränderungen in sensomotorischen, somatosensorischen und kognitiv relevanten Arealen – was aufgrund der motorischen und kognitiven Deprivation wenig überrascht –, nicht aber im vestibulären System. Da fMRT-Aufnahmen im Weltall wohl nicht so schnell möglich sein werden, träumen van Ombergen und Mitarbeiter davon, rückkehrende Raumfahrer möglichst schon am Ankunftstag per fMRT zu untersuchen. Nach einigen Tagen auf der Erde könnten viele Hirnveränderungen nicht mehr nachweisbar sind, vermuten sie. Mit Blick auf länger dauernde Raumfahrtabenteuer, etwa geplante Marsmissionen, sei es jedenfalls wichtig, die Auswirkungen der Schwerelosigkeit auf das Gehirn genau zu kennen.

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