HINTERGRUND

Weht der Wind winzige Giftharpunen aus dem Wald, raubt das manchen den Atem und lässt die Haut jucken

Von Thomas Müller Veröffentlicht:

In trockenen und warmen Regionen Deutschlands gibt es zwischen Mai und Juni zunehmend ein Problem: Bestimmte Raupen mit langen Haaren vermehren sich massenhaft. Inzwischen haben sie bereits die Wälder südlich von Frankfurt/Main erobert.

So entwickeln sich die Raupen erstmals in Neu-Isenburg zu einer Plage, nur knapp zehn Kilometer von der hessischen Metropole entfernt. Kinder kommen mit juckenden Ekzemen von der Schule nach Hause, das Sport-Stadion und die angrenzenden Anlagen wurden kurzfristig gesperrt, Spielplätze und Waldwege mit rotweißen Bändern abgeriegelt. Daran kleben Warnhinweise: Gesperrt wegen Eichenprozessionsspinner.

In Südhessen breiten sich die Falter zunehmend aus

"Noch ist der Befall nicht sehr hoch", so Dr. Peter Schönegge von der Stadtverwaltung Neu-Isenburg zur "Ärzte Zeitung". Doch der Diplom-Biologe macht sich keine Illusionen: "Die Larven werden sich auch hier in den nächsten Jahren festsetzen." Denn etwas weiter südlich, in Darmstadt, hatte man mit dem Problem schon in den vergangenen Jahren zu kämpfen. Von dort aus hat sich der Falter in Südhessen immer weiter ausgebreitet. Das derzeit milde Klima lässt befürchten, dass die Insekten weitere Gebiete erobern.

Dabei gibt es den Eichenprozessionsspinner schon immer in Deutschland. Neu ist, dass er jetzt häufig in Massen vorkommt, so Professor Alfred Wulf von der Biologischen Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft in Kassel. Erste Massenauftritte wurden bereits 2002 registriert, etwa in Franken. Doch dann, so schätzt Wulf, erhielten die Tiere durch den extrem trocken-heißen Sommer 2003 einen Vermehrungsschub. Seither kommt es in manchen Regionen Jahr für Jahr zu einer Raupenplage mit juckenden Ekzemen, Urtikaria und Asthma-Anfällen bei Menschen, die befallenen Eichen zu nahe kommen.

Das Problem dabei: Man sieht die winzigen Gifthaare der Tiere nicht, die sich in die Haut bohren oder die Atemwege reizen. Und: Man muss dazu weder die Raupen streicheln noch tief in den Wald. Auf ihren Märschen in Richtung Grünfutter lassen die Raupen permanent Haare, die vom Wind verweht werden. Einmal auf der Haut, bohren sie sich durch ihre Widerhaken bei jeder Bewegung tiefer hinein, brechen ab, und das Gift entleert sich.

Die Diagnose einer Raupendermatitis kann sich schwierig gestalten, denn die Ausschläge sind nicht charakteristisch. So können sich die Patienten mit streifigen Rötungen präsentieren, mit Kratzspuren wie bei einer toxischen Dermatitis, berichtet Professor Harald Maier von der Uniklinik für Dermatologie an der Meduni Wien. Maier kennt die Symptome gut: In Österreich beobachtet man schon seit den 80er und 90er Jahren Massenauftritte des Eichenschädlings.

Selten, eher bei Kindern, kommt es zu einer kleinflächigen Urtikaria. Am häufigsten entstehen bei der Raupendermatitis größere rote Knötchen, die längere Zeit bestehen bleiben und recht lästig sind. Das Leitsymptom ist jedenfalls starker Juckreiz. Bei manchen kommt es auch zu Asthma-Anfällen, ein Zeichen dafür, dass die Härchen und ihre Giftstoffe in die Atemwege vordringen. Auch Schwindelgefühl und leichte Übelkeit werden beschrieben.

Wie es genau zu diesen Reaktionen kommt, ist noch nicht ganz klar. Es gibt Berichte, dass es sich um eine Allergie handelt, aber auch eine Unverträglichkeit wird diskutiert. Die Arbeitsgruppe des Dermatologen Maier sieht eher die direkte Giftwirkung im Vordergrund, zumal, anders als bei Allergien, ein Gewöhnungseffekt beobachtet wurde, die Reaktionen mit den Jahren also abnehmen können.

Um den Eichenprozessionsspinner als Ursache eindeutig festzumachen, reiche die Blickdiagnose nicht. Vielmehr sei es wichtig, darauf zu hören, ob Patienten von einem Ausflug oder Spaziergang in letzter Zeit sprechen. "Bei unklaren Ausschlägen um diese Jahreszeit sollte man immer an den Eichenprozessionsspinner denken", so der Hautarzt. Zur Therapie reichen meist Antihistaminika und topische Kortisonzubereitungen.

Nur Fachleute sollten die Nester beseitigen

Bei befallenen Bäumen auf dem eigenen Grundstück die Nester selbst zu entfernen ist keine gute Idee. Durch jegliche Manipulation - auch durch den Luftzug beim Verbrennen - können die Härchen erst recht in der Gegend herumgewirbelt werden. Empfohlen wird, das jeweilige Gesundheits- Forst- oder Grünflächenamt zu informieren. Personen in Vollschutzanzügen entfernen dann die Nester mit einem Industriestaubsauger. Entfernt werden sollten auf diese Weise auch bereits verlassene Nester, denn das Gift bleibt auch in abgefallenen Härchen über mehrere Jahre aktiv. Das wurde etwa für ein Ehepaar mit Haus und Garten nahe dem Wienerwald prekär. "Sie mussten das Grundstück verkaufen", erzählt Maier, "der Boden des Gartens war total kontaminiert."

Ein Rat des Dermatologen: Von Mai bis Ende Juli in den Verbreitungsregionen besser keine Ausflüge in Eichenwälder unternehmen. Vor allem bei windigem Wetter können in solchen Wäldern die Brennhärchen der Raupen wie Giftpfeile herumschwirren.

Teile des Artikels sind bereits in der "Ärzte Woche" in Österreich erschienen.



STICHWORT

Eichenprozessionsspinner

Von Mai bis Juli sind auf Eichenbäumen wahre Prozessionen zu sehen. Von ihren Sammelplätzen oder gut getarnten Nestern aus begeben sich Trupps aus 5 cm langen, grauen, fein behaarten Raupen auf Nahrungssuche in Richtung Astspitzen. Dieser Marsch gab den Insekten ihren Namen: Eichenprozessionsspinner (Thaumetopoea processinea). Die Motten selbst, die sich ein paar Monate später aus den Larven entwickeln, sind unscheinbar und leben nur wenige Tage. Charakteristisch sind große seidige Haare. Diese sind aber völlig harmlos. Ab dem dritten von sechs Stadien bilden sie jedoch klitzekleine Härchen aus, die Harpunenspitzen ähneln und winzige Ampullen mit dem Toxin Thaumetopoein tragen, eine Waffe gegen ihre Feinde.

Eine Broschüre zu dem Thema lässt sich unter www.frankfurt.de, dort unter "Grünflächenamt" herunterladen.

Lesen Sie dazu auch: Lästige Plage durch toxische Raupenhaare

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