Hintergrund

Zentren und Register sollen die Endoprothetik kontrollierter machen

Kunstgelenke sind auf dem Weg zur Massenware. Um Massenfehlschläge zu vermeiden, sollen die Produkte besser überwacht werden. Und auch die Anbieter sollen Qualitätskriterien nachweisen.

Philipp Grätzel von GrätzVon Philipp Grätzel von Grätz Veröffentlicht:
Total-Endoprothese des Hüftgelenks.

Total-Endoprothese des Hüftgelenks.

© laurent nicolaon / fotolia.com

Neu ist nicht zwangsläufig besser. Das gilt auch für die orthopädische Endoprothetik. Hier gibt es sogar ein ganz besonderes Innovationsdilemma: Eine Endoprothese soll vor allem lange halten. Wenn aber etablierte Produkte schon bei 90 Prozent der Patienten mehr als 15 Jahre halten, dann müssen neue Produkte entweder 15 Jahre lang getestet werden, bevor sie definitiv als besser oder zumindest gleichwertig freigegeben werden können.

Oder man begnügt sich mit weicheren Qualitätskriterien, bringt die vielleicht in anderer Hinsicht überlegenen, neuen Systeme früher auf den Markt - und riskiert Fehlschläge.

In Europa und speziell in Deutschland wird Letzteres gemacht. Das ist nicht unproblematisch für die Patienten, wie Professor Volker Ewerbeck, Direktor der Abteilung Orthopädie und Unfallchirurgie an der Uniklinik Heidelberg, beim Kongress der Orthopäden und Unfallchirurgen in Berlin ausführte:

"Wir hatten in den letzten Jahren mehrere Rückrufaktionen bei neuen Endoprothesen, die den Langzeittest nicht bestanden haben." Der Experte empfahl Patienten deswegen, beim Arzt explizit nachzufragen, wie viel Erfahrung er mit der jeweils vorgeschlagenen Prothese schon habe und wie lange sie auf dem Markt ist.

Nicht nur bei den Produkten, auch auf Anwenderseite gibt es Defizite in der Endoprothetik. "Die Zahl der in Deutschland implantierten Hüftgelenksendoprothesen ist zwischen 2002 und 2009 von 150 000 auf 209 000 pro Jahr gestiegen. Bei den Kniegelenksendoprothesen gibt es sogar einen Anstieg von 90 000 auf 175 000 im selben Zeitraum", betonte Professor Reiner Gradinger von der Klinik für Orthopädie am Klinikum rechts der Isar in München. Dies sei durch die demografische Entwicklung alleine nicht zu erklären.

Für Gradinger liegt der Verdacht nahe, dass sich die ökonomischen Zwänge, unter denen Krankenhäuser stehen, hier zumindest teilweise niederschlagen mit der Folge, dass Endoprothesen heute früher als in der Vergangenheit eingesetzt werden. Wegen der begrenzten Haltbarkeit von Endoprothesen hält Gradinger das für sehr problematisch: "Es gibt keinen Zeitpunkt, zu dem man eine Endoprothese nicht mehr einsetzen kann. Sie sollten wirklich nur bei entsprechend hohem Leidensdruck zum Einsatz kommen."

Der Anstieg der Prothesenzahlen und die bisherigen Rückrufaktionen haben dazu geführt, dass sich deutsche Orthopäden verstärkt Gedanken darüber gemacht haben, wie die hohen Qualitätsstandards umgesetzt werden können, ohne den Innovationseifer der Hersteller zu sehr zu bremsen.

"Was wir nicht geschafft haben, ist eine Risikobegrenzung durch eine limitierte, kontrollierte Anwendung bei noch unsicherer Datenlage", so Ewerbeck. Andere Länder - vor allem die USA - seien sehr viel restriktiver mit der unkontrollierten Freigabe neuer Prothesenmodelle.

Was Deutschland bisher auch noch nicht hat, ist ein Endoprothesenregister, in dem die Funktion implantierter Endoprothesen langfristig nachverfolgt werden kann. Doch das soll kommen: "Die Umsetzung ist für das Jahr 2011 vorgesehen", betonte Ewerbeck. "In Ländern wie in Skandinavien, wo Endoprothesenregister eingeführt wurden, sank allein dadurch die Revisionsrate dramatisch."

Auch auf Anwenderseite könnte es in Deutschland bald neue qualitätssichernde Maßnahmen geben. So startet im Januar die Pilotphase von EndoCert. Das ist ein Gemeinschaftsprojekt der Deutschen Gesellschaften für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie beziehungsweise Orthopädie und Unfallchirurgie sowie der Arbeitsgemeinschaft Endoprothetik.

Bei diesem Projekt werden im ersten Halbjahr 2011 an 10 bis 15 Kliniken deutschlandweit mehrere Zertifizierungskriterien evaluiert. Diese Kriterien - oder modifizierte Formen davon - sollen langfristig die Grundlage für eine Zertifizierung von Endoprothetikzentren sein. Vorbild: die Darmkrebszentren. Details zu den Kriterien sind bisher noch nicht bekannt.

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