ZNS-Komplikationen

Hirnschäden bei schweren COVID-19-Verläufen nicht selten

Bei COVID-19-Patienten mit einem schweren Verlauf sind ZNS-Komplikationen keine Seltenheit. Meist sind es Schlaganfälle, wie eine Analyse ergab. Hirnstammschäden sind aber wohl nicht die Ursache der Atemnot.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
COVID-19: Bei 62 Prozent der an das britische Surveillance-Netzwerk gemeldeten ernsten neuropsychiatrischen Komplikationen handelte es sich um zerebrovaskuläre Ereignisse.

COVID-19: Bei 62 Prozent der an das britische Surveillance-Netzwerk gemeldeten ernsten neuropsychiatrischen Komplikationen handelte es sich um zerebrovaskuläre Ereignisse.

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Southampton. Seit Beginn der SARS-CoV-2-Pandemie gab es immer wieder Berichte über ein erhöhtes Schlaganfallrisiko bei Infizierten, und zwar auch unter jungen und nur mild symptomatischen Patienten. Hinzu kommen Fallberichte zu neuroimmunologischen Komplikationen wie Guillain-Barré-Syndrom (GBS) und Meningoenzephalitiden.

Solche Berichte basieren aber meist auf kleinen Fallserien oder oligozentrischen Untersuchungen. Aus diesem Grund haben britische Neurologen- und Psychiaterverbände ein Meldesystem etabliert und ihre Mitglieder dazu aufgerufen, ernste neuropsychiatrischen Komplikationen zu melden.

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Inzwischen haben Ärzte um Dr. Aravinthan Varatharaj von der Uniklinik in Southampton 153 Meldungen ausgewertet, die allermeisten davon bezogen sich auf Schlaganfälle und Bewusstseinsveränderungen wie Delir, einige beschrieben aber auch erstmals auftretende Psychosen (Lancet Psychiatry 2020; online 25. Juni).

Britisches Surveillance-Netzwerk

Beteiligt an dem Surveillance-Netzwerk sind neben Neurologen und Psychiatern auch Ärzte aus Schlaganfallzentren. Die jeweiligen Fachärztevereinigungen haben einen Online-Meldebogen auf ihre Webseiten gestellt.

Neurologen können dort seit 2. April, Schlaganfallspezialisten seit 3. April und Psychiater seit 21. April Komplikationen melden. Die Auswertung bezieht sich auf Meldungen bis zum 26. April, was bedeutet, dass Psychiater deutlich unterrepräsentiert sind. Immerhin stellten diese in den fünf Tagen bis zur Auswertung 25 Meldungen auf das Portal.

Die Meldebögen waren einheitlich strukturiert und sollten in weniger als fünf Minuten auszufüllen sein. Im Median waren die gemeldeten Patienten 71 Jahre alt, 13 erst 50 Jahre oder jünger.

Ausreichend verwertbare Daten liegen zu 125 Meldungen vor. 77 davon (62 Prozent) beziehen sich auf zerebrovaskuläre Ereignisse, 39 (31 Prozent) auf einen veränderten Bewusstseinsstatus, sechs auf peripher-neurologische Komplikationen, drei auf sonstige Auffälligkeiten.

39 Patienten mit Bewusstseinsveränderungen

57 Patienten (46 Prozent) hatten einen ischämischen Schlaganfall, neun einen hämorrhagischen (Sieben Prozent). Eine ZNS-Vaskulitis wurde bei einem Patienten diagnostiziert, zehn erlitten andere vaskuläre Ereignisse.

Von den 39 Patienten mit Bewusstseinsveränderungen hatten sieben eine Enzephalitis, neun eine nicht genauer spezifizierte Enzephalopathie, 25 entwickelten psychiatrische Syndrome, zehn davon eine Psychose. Ein Guillain-Barré-Syndrom erkannten die Ärzte bei vier Patienten.

Psychische Manifestationen wurden überproportional häufig bei jüngeren, zerebrovaskuläre Ereignisse vor allem unter älteren Patienten beobachtet.

Bis zum Auswertungszeitpunkt am 26. April waren in Großbritannien 154.000 COVID-19-Infekte registriert worden. Die 153 Meldungen deuten also auf einen eher geringen Anteil von Patienten mit neuropsychiatrischen Komplikationen hin, auch wenn davon auszugehen ist, dass nur ein Bruchteil tatsächlich gemeldet worden ist.

Keine Hirnstammauffälligkeiten im MRT

Einen anderen Ansatz haben Forscher um Dr. Nelly Kanberg von der Universität in Göteborg gewählt: Sie analysierten die Werte für Leichtkettenneurofilament (NFL) und Glial Fibrillary Acidic Protein (GFAP) im Serum von über 40 unterschiedlich schwer erkrankten Patienten (Neurology 2020; online 16. Juni). NFL deutet auf neuronale Schäden, GFAP auf eine Astrozytenaktivierung hin.

Bei Patienten mit schweren Verläufen waren die NFL-Werte deutlich erhöht, unter Patienten mit moderaten und schweren Verläufen auch die GFAP-Konzentrationen. Die GFAP-Werte stiegen zu Beginn der Erkrankung rasch an, um dann wieder deutlich zu fallen, die NFL-Werte nahmen über die Zeit jedoch kontinuierlich zu. Dies spricht zumindest bei schweren Verläufen für eine deutliche Hirnschädigung, wenngleich unklar bleibt, ob diese direkt durch das Virus erfolgt oder indirekt durch Sauerstoffmangel und Organversagen.

Immerhin scheint das Virus nicht das Atemzentrum zu schädigen. Experten hatten immer wieder die Befürchtung geäußert, das Lungenversagen bei COVID-19 könnte auch durch einen viralen Befall des Hirnstamms mitverursacht werden.

In Post-mortem-Hirnscans von 62 an COVID-19 verstorbenen Patienten konnten Ärzte um Dr. Tim Coolen von der Erasmusklinik in Brüssel zwar jede Menge Hirnschäden erkennen, darunter Mikro- und Makroblutungen, Ödeme sowie unspezifische Veränderungen der weißen Substanz, aber keine Auffälligkeiten im Hirnstamm (Neurology 2020; online 16. Juni). „Die MRT-Befunde sprechen nicht für eine Beteiligung von Hirnschäden bei der Atemnot von COVID-19-Patienten“, so das Fazit der Ärzte.

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