INTERVIEW

"Das Potential der Psychoanalyse ist noch längst nicht ausgeschöpft"

Der 150. Geburtstag von Sigmund Freud vergangenen Samstag bietet Anlaß zu einer Rückschau auf die über 100jährige Geschichte der Psychoanalyse, als deren Begründer Freud in die Annalen einging. Mit seinem Buch "Das Rätsel der Sphinx. Sigmund Freuds Einfluß auf die Kultur" (Psychosozial-Verlag, Gießen) hat es der Psychoanalytiker und Psychotherapeut Professor Hans-Jürgen Wirth unternommen, Freuds historische Leistung kritisch zu würdigen. Im Gespräch mit Adelbert Reif von der "Ärzte Zeitung" fordert Wirth eine Weiterentwicklung der Psychoanalyse.

Veröffentlicht:

Ärzte Zeitung: Herr Professor Wirth, "Das Rätsel der Sphinx" nennen Sie Ihr Buch und stellen fest, daß die "Figur Freud" im Laufe der Zeit selbst zur Sphinx geworden sei, die uns Rätsel aufgebe. Worin besteht das Rätselhafte an Freud?

Hans-Jürgen Wirth: Hinter dem "Rätsel der Sphinx" steckt die Frage: Was ist der Mensch? Freud ist zunächst der Ödipus, der das Rätsel der Sphinx löst und Antworten gibt auf diese Frage. Aber heute nimmt er selbst die Position der Sphinx ein, indem er uns, die Leser seiner Werke, befragt. Wenn man seine Aussagen nicht dogmatisiert, sondern sie neu interpretiert und weiter entwickelt, dann sind wir in unserer Zeit aufgefordert, die Frage neu zu beantworten: Was ist der Mensch?

Ärzte Zeitung: Was war der Mensch für Freud?

Wirth: Freuds Menschenbild ist auf den Versuch ausgerichtet, die Innenwelt zu entwickeln. Von daher bildet es eine echte Alternative zu dem auf das Äußere, nämlich die wissenschaftlich-technische Beherrschung der Natur, fixierte Menschenbild.

Ärzte Zeitung: Wird Freud heute eher als Kulturphilosoph denn als "Seelenarzt" wahrgenommen?

Wirth: Freud kommt sowohl als Psychotherapeut wie als Kulturphilosoph herausragende Bedeutung zu. Als Seelenarzt ist er der Begründer der modernen Psychotherapie, und nahezu alle psychotherapeutischen Schulen gründen auf seiner Lehre. Was seine Stellung als Kulturphilosoph betrifft, sind es die Nachbarwissenschaften - bis hin zur Literatur- und Sozialwissenschaft -, die Freuds psychoanalytische Kulturtheorie aufgreifen. Starke Beachtung fanden etwa die Bemühungen einzelner Mitglieder der Frankfurter Schule wie Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse und Erich Fromm, die die Psychoanalyse für Gesellschaftstheorien nutzbar machten.

Ärzte Zeitung: Wie beurteilen Sie den Einfluß der Psychoanalyse auf andere Wissenschaften?

Wirth: Die Geisteswissenschaften, die Kulturwissenschaften, die Gesellschaftswissenschaften - sie alle wurden durch die Psychoanalyse beeinflußt. Aber das Potential der Psychoanalyse ist damit noch längst nicht ausgeschöpft. Es ist viel größer und würde ausreichen, auch noch andere Wissenschaften zu beeinflussen. Nehmen wir nur die Medizin, die nach wie vor einseitig somatisch orientiert und ausschließlich krankheits- und nicht präventivorientiert ist. Wenn sie als Ganze - nicht nur das Teilgebiet der Psychosomatik - die Erkenntnisse der Psychoanalyse aufgriffe, stünde sie ganz anders da. Denn psychische Phänomene und Umstände spielen ja in allen Bereichen der Medizin eine große Rolle, etwa bei chronischen Krankheiten als Krankheitsverarbeitung. Aber leider hat sich die Medizin gegen die Psychologie des Unbewußten total abgeschottet.

Ärzte Zeitung: Eine der großen Entdeckungen Freuds ist zweifellos die Psychologie des Unbewußten. Worin besteht ihre Bedeutung für unsere Gegenwart?

Wirth: Werfen wir einen Blick auf die Politik: Sadat soll einmal gesagt haben, 70 Prozent des israelisch-arabischen Konflikts sei psychologischer Natur. Dem würde ich zustimmen. Ich würde auch sagen, der Irak-Krieg ist mehr aus psychologischen Gründen geführt worden denn aus militärischen oder wirtschaftlichen. Im Irak-Krieg ging es primär darum, das nach dem 11. September stark lädierte Selbstbewußtsein der Amerikaner zu stabilisieren. Wenn die Politik nur wenige Elemente der Psychoanalyse aufnähme, würde man internationale Konflikte auf andere Weise handhaben. Gerade hier ist die Psychoanalyse hochaktuell.

Ärzte Zeitung: Hat die Psychoanalyse auch "Impulse" aus außerwestlichen Kulturen empfangen?

Wirth: Eine interessante Entwicklung ist die sogenannte Ethnopsychoanalyse. Zu ihren Hauptvertretern gehören im deutschen Sprachraum Paul und Goldy Parin, Fritz Morgenthaler und Mario Erdheim aus der Schweiz. Die Parins und Morgenthaler unternahmen schon in den 60er Jahren Reisen nach Afrika und führten dort psychoanalytisch orientierte Gespräche. Das war einer der ersten Versuche, die Psychoanalyse auf fremde Kulturen anzuwenden.

Zum Teil entdeckte man ähnliche Strukturen. So gibt es eine Diskussion darüber, ob der Ödipuskomplex universal ist und in anderen gesellschaftlichen Kulturen auftaucht, vielleicht in unterschiedlicher Ausprägung. Aber man stieß auch auf Phänomene, die man von westlichen Patienten nicht kannte, und entwickelte von daher neue Konzepte über das psychische Funktionieren oder über psychische Instanzen. Diese bekommen nun zunehmend praktische Relevanz. Indem wir im Westen in immer stärkerem Maße mit Emigranten und Flüchtlingen außerhalb Europas konfrontiert sind, müssen wir uns als Psychotherapeuten deren ganz anderen Krankheitsbildern, Problemlagen, emotionalen Zuständen und Wertorientierungen zuwenden.

Ärzte Zeitung: Und inwieweit hat die Psychoanalyse auf andere Kulturen ausgestrahlt?

Wirth: Der Einfluß der Psychoanalyse auf andere Kulturen ist noch relativ beschränkt. Selbst in den USA sind nur sehr wenige Afroamerikaner als Psychoanalytiker tätig. Auf der anderen Seite wird gerade ein umfangreiches Lehrbuch über Neurosenlehre aus dem Psychosozial-Verlag ins Chinesische übersetzt, und ich bin verwundert, aber auch erfreut, daß dafür in China offensichtlich ein Interesse vorhanden ist. Wieweit das trägt, bleibt abzuwarten.

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