Besondere WG

Der Inklusions-"Wohnsinn"

Inklusive Wohngemeinschaften bestehen aus sogenannten „Tandem-Partnern“. Jeweils ein Student und ein behinderter WG-Mitbewohner bestreiten gemeinsam den Alltag. In der inklusiven WG in Gießen klappt das gut.

Von Gesa Coordes Veröffentlicht:
Treffpunkt Küchentisch in der „WG am Eck“: (v. l.) Christopher, Delvin, Sorel, Jerrit, Laura und Silke.

Treffpunkt Küchentisch in der „WG am Eck“: (v. l.) Christopher, Delvin, Sorel, Jerrit, Laura und Silke.

© Rolf K. Wegst

GIEßEN. In der ersten inklusiven Wohngemeinschaft Mittelhessens – in Gießen – wohnen fünf Studenten und fünf Berufstätige mit Unterstützungsbedarf zusammen. Das funktioniert nicht nur reibungslos, es macht auch Spaß.

Die Gelbwurst stellt Christopher als Erstes auf den Tisch. Der 25-Jährige liebt die Wurst, von der er sich beeindruckende Mengen aufs Brot stapelt. Erst dann holt er Käse, Tomaten und Saft aus dem Kühlschrank und schnippelt die Paprika in ganz kleine Stücke.

Unterdessen erzählt er Informatikstudent Sorel von seinem Arbeitstag im Altersheim, wo er – so drückt er es ironisch aus – „alte Leute in den Gängen rumschiebt“. „Christopher macht gern Späße“ erklärt Sorel, der den Salat wäscht.

Heute sind beide „Tandem-Partner“. Die „Tandems“ kümmern sich jeden Tag darum, dass der Alltag in der „WG am Eck“ klappt, dass eingekauft, gekocht und gemeinsam gegessen wird. Und dass die Bewohner, die Unterstützung brauchen, rechtzeitig aufstehen und ins Bett gehen. Die „Tandems“ bestehen immer aus einem Studenten und einem behinderten WG-Bewohner.

Günstig wohnen, dafür Dienste

Zehn junge Leute wohnen in der „WG am Eck“, die von der Lebenshilfe Gießen im Juni eröffnet wurde. Fünf haben Unterstützungsbedarf, fünf nicht. Die Studenten wohnen zu sehr günstigen Bedingungen in der Kommune. Dafür müssen sie jede Woche eine Frühschicht, eine Nachtbereitschaft und einen Dienst von 16 bis 22 Uhr sowie etwa einmal im Monat einen Wochenenddienst übernehmen. Aufgaben der Körperpflege übernimmt ein Pflegedienst.

Die Miete ist aber für keinen von ihnen der entscheidende Punkt, versichert der aus Kamerun stammende Sorel. Er selbst hat wie die meisten seiner studentischen Mitbewohner vorher in einer „normalen“ WG gewohnt: „Hier fühle ich mich viel wohler“, sagt der 31-Jährige, der gern sehen wollte, „wie so ein Projekt läuft“. Inzwischen seien sie nicht nur Mitbewohner, sondern Freunde.

Regelmäßig nimmt er Christopher mit zu seinem Chor. Gemeinsam gehen sie in die Kirche St. Albertus, wo Christopher Messdiener ist. Und er freut sich darüber, dass sein Zimmernachbar „immer bereit ist, lustige Geschichten zu erzählen“.

Das Herz der WG ist die Wohnküche mit dem großen Eichentisch. Nachmittags trudeln die jungen Leute nacheinander ein. Die Studenten kommen von der Uni. Christopher, Philipp, Regina, Laura und Fabian kehren von der Arbeit zurück.

Laura, die in der Küche eines Kindergartens arbeitet, ist eine der ersten, die sich mit Teddy Paul im Arm an den Tisch setzt. Sie hat vorher bei ihren Eltern gewohnt. „Aber es ist lustiger, mit den anderen abzuhängen“, sagt die 25-Jährige. Gestern hat sie einen Schokokuchen gebacken. Der war so lecker, dass er noch am selben Abend komplett verputzt wurde.

Viel mehr miteinander reden

Philipp hat einen anstrengenden Tag auf dem Biolandhof im nahe gelegenen Buseck hinter sich: „Kehren, graben, rechen“, fasst er zusammen. Der 24-Jährige sorgt dafür, dass sein Lieblingsessen – Nudeln mit Tomatensoße – oft auf den Tisch kommt.

Als Sportler hat er mehrere Medaillen bei den Special Olympics geholt. Für ihn bedeutet der Einzug in die WG auch, dass er nicht mehr morgens um 6 Uhr aufstehen muss, um von seinem Heimatort rechtzeitig zu seiner Arbeit in Buseck zu kommen. Er kann jetzt eine Stunde länger schlafen.

Dass die „WG am Eck“ der Gießener Lebenshilfe so gut funktioniert, hat Projektleiterin Frauke Koch selbst überrascht: „Geknallt hat es noch nie“, sagt sie. Dafür sorgt allerdings auch ein durchdachtes Konzept. So kommt Strittiges vor das WG-Plenum, das einmal im Monat tagt. Dort wurde etwa beschlossen, Tür-Ampeln einzuführen: Bei Grün darf man eintreten, bei Gelb muss man anklopfen, bei Rot möchte der Bewohner nur im Notfall gestört werden.

Ob sich die Bewohner mit Unterstützungsbedarf durch die WG verändert haben? „Auf jeden Fall fällt es allen leichter zu sagen, was sie gern wollen“, sagt Frauke Koch. Aber sie lernen auch so lebenspraktische Dinge wie Wäsche waschen und staubsaugen.

Auch für die Studenten ist der strukturiertere Alltag neu: „Mehr Verantwortung und mehr Verpflichtung“ fasst Gerrit zusammen, der ein Masterstudium für Inklusion absolviert. Und man müsse viel mehr miteinander reden. Aber es gibt offenbar auch viel mehr Zusammenhalt. „Wenn einer traurig ist, ist fast jeder traurig“, sagt Informatikstudent Delvin über die Stimmung in der WG: „Wenn einer glücklich ist, ist fast jeder glücklich.“

Inklusive WG:

  • Die Finanzierung der „WG am Eck“ in Gießen erfolgt vor allem über die Betreuungsleistungen des Landeswohlfahrtsverbandes. Dazu kommen Pflegeleistungen, die von der Pflegekasse übernommen werden. Damit sei die WG „nicht teurer als das Wohnheim“, sagt LWV-Regionalmanager Thomas Knierim.
  • Planung neuer inklusiver WGen: Wenn alles gut geht, sollen die nächsten Kommunarden 2020 in einen Neubau am Gießener Stadtrand ziehen.
  • Der Münchner Verein „Gemeinsam leben lernen“ eröffnete bereits vor 30 Jahren die erste WG von Menschen mit geistiger Behinderung und Studenten. Inzwischen gibt es neun Wohngemeinschaften dieser Art in München.
  • Inklusive WG in verschiedenen Städten: Vor allem in den vergangenen fünf bis zehn Jahren fanden sich Nachahmer in Städten wie Saarbrücken, Köln, Bonn, Aachen, Bremen, Hamburg und Dresden. (coo)
Weitere Informationen zu inklusiven WGen unter: https://wohnsinn.org/
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