Muskel-Pille im Ledermantel

Der Medizinball wird 100 Jahre alt

Das wohl deutscheste aller Sportgeräte steht seit einem Jahrhundert für eine einzigartige Geschichte im Spannungsfeld von Körperkultur, Schul- und Leistungssport, Medizin und Politik.

Von Gunnar von der Geest Veröffentlicht:
Bis an die Schmerzgrenze: Raul, Ex-Star vom Fußball-Bundesligisten FC Schalke 04, quält sich im Training mit einem Medizinball.

Bis an die Schmerzgrenze: Raul, Ex-Star vom Fußball-Bundesligisten FC Schalke 04, quält sich im Training mit einem Medizinball.

© Team 2 / imago

NEU-ISENBURG. "Medizinbälle raus!" Wenn dieser Ruf des Sportlehrers einst durch die Turnhalle schallte, wiederholten sich die Ereignisse: Kaum hatte der pickelige leptosome Streber seine Brille abgesetzt, flogen ihm kiloschwere Lederkugeln an den Kopf.

Flachbrüstige Mädchen saßen derweilen traumatisiert in der Ecke und beschlossen, ihre Sportkarriere zu beenden, noch ehe sie begonnen hatte.

Und die vorlauten Angeber eiferten mit aufgeblasenen Backen um die Wette, wer wohl am kräftigsten innerhalb der Halbstarken-Riege sei.

Kaum ein Sportgerät setzt bei Menschen - zumindest jenseits der Lebensmitte - so viele Assoziationen frei wie der Medizinball.

Schuld an dem bis heute zweifelhaften Image des zwar greisen, aber durchaus lebendigen Sportkameraden hat vermutlich einer der bekanntesten Fußballlehrer: Immer wenn Felix "Quälix" Magath seinen Arbeitgeber wechselte, bekamen die "Millionenfüßler" schon Schweißausbrüche, lange bevor ihr neuer Vorturner seine Lieblingsgeräte ausgepackt hatte.

Zu Unrecht, wie Sportwissenschaftler anmerken. Nach wie vor würde die hässliche "Pille" eine Vielzahl an Übungen ermöglichen, die hervorragend dazu geeignet seien, um beispielsweise Schnellkraft, Kraftausdauer und Beweglichkeit zu trainieren.

Man könne den Ball schließlich werfen, fangen, stoßen, tragen, rollen. Und dies vorwärts, seitwärts, rückwärts, liegend, hüpfend, kniend - bei einem vergleichsweise geringen Verletzungsrisiko.

Schon vor 3000 Jahren im Einsatz?

Urformen des Medizinballs gehören zu den ältesten Krafttrainingsgeräten. Bereits vor 3000 Jahren sollen Ringer in Persien mit aus Tierhäuten zusammengenähten Sandbällen ihre Körper in Form gebracht haben.

Als Pionier der Neuzeit gilt William Muldoon. Hauptberuflich bei der New Yorker Polizei angestellt, machte er sich nebenbei als Ringer ("Iron Duke") und Boxcoach einen Namen.

Schon in den 1870er Jahren soll er einen rund 20 Pfund schweren mit Sägemehl gefüllten Fußball in schneller Folge auf seine Boxschüler geschleudert haben, um deren Reaktionsschnelligkeit zu schulen.

1900 eröffnete Muldoon ein Gesundheitsinstitut und etablierte sanftere Übungen als festes Trainingsprogramm für seine Sanatoriumsgäste.

Die gesundheitsfördernde Wirkung des Vollballs wurde in den USA daraufhin so populär, dass man ihn "medicine-ball" nannte. Carl Diem reklamierte mehrfach für sich, den ersten Medizinball nach Deutschland importiert zu haben.

Genau vor 100 Jahren, im Sommer 1913, will er mit einem Exemplar im Gepäck über den Großen Teich gereist sein. Einen Beweis dafür konnte der sowohl geniale als auch wegen seiner Rolle in der Zeit des Nationalsozialismus‘ umstrittene Sportfunktionär nie antreten.

Doch wer wollte dies ernsthaft bezweifeln, setzte Diem doch zahlreiche andere sporthistorische Meilensteine: Er gab etwa den Anstoß zur weltweit ersten Sporthochschule (Berlin), initiierte die "Reichsjugendwettkämpfe" - Vorläufer der heutigen Bundesjugendspiele - und war zwischen 1947 und 1962 Rektor der von ihm gegründeten Deutschen Sporthochschule in Köln.

Blütezeit während Weimarer Republik

Ihre erste Blütezeit als wichtiges Hilfsmittel der propagierten "Deutschen Gymnastik" erlebten Medizinbälle während der Weimarer Republik.

Zu den größten Verfechtern des martialisch-ästhetischen Mix‘ aus Körperkult und Wehrhaftmachung zählte Hans Surén, ein Vertreter des Naturismus: "Medizinball-Gymnastik hämmert Kraft, Ausdauer und Stehvermögen in die Körper. Sie schärft Sinne und Konzentration, sie stärkt die Nerven, fordert Gewandtheit und Schneid", schrieb er.

Der Pädagoge Heinrich Meusel lobte 1930 den Medizinball gar als universalen Hometrainer: "Wir gelangen durch die Benutzung dieses Gymnastikballes auf dem kürzesten Weg zu einer einfachen und zugleich inhaltreichen Körperbildung.

Dieser außergewöhnlich hohen Werte wegen sollte der Medizinball nicht nur in jedem Turn- und Sportverein, sondern auch in jeder deutschen Familie als Gesundheits- und Freudespender Eingang finden."

In Sportzeitschriften wurde das runde Schwergewicht als "beste Medizin für den Körper" gepriesen. Viel besser als die Einnahme von Arzneimitteln.

Auch in Krankenhäusern hielt die Gymnastikkugel rasch Einzug. So richtete 1927 die Barmbecker Klinik in Hamburg eine "Abteilung für Leibesübungen als Therapie" ein.

Kein Auslaufmodell

Hier absolvierten Diabetiker und Übergewichtige, aber auch Rekonvaleszenten nach Tuberkulose gymnastische Übungen, um ihre Lungen zu kräftigen und insgesamt widerstandsfähiger zu werden.

Obwohl Medizinbälle lange Zeit als willige Hilfsobjekte einer totalitären Drillpädagogik ("zäh wie Leder") herhalten mussten und sie insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg ideologisch kontaminiert waren, nahm die deutsche Sportartikelindustrie rasch ihre Produktion wieder auf.

Bis heute gehört der Medizinballschrank zur Standard-Ausstattung von Schulturnhallen. Noch in den 1990er Jahre musste in Bayern jeder Abiturient einen Fitnesstest mit Medizinballübungen absolvieren.

Der Ball ist in die Jahre gekommen - ein Auslaufmodell ist er nicht.

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