"Förderschüler gehören in Regelschulen"

Inklusion - ein technokratischer Begriff, der immer noch polarisiert. Er bedeutet: Auch Förderschüler besuchen die Regelschule. Nicht wenige Lehrer haben Vorbehalte - aber Deutschland hat sich zur Abkehr vom Sonderschulsystem verpflichtet.

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NEU-ISENBURG (eb). Deutschland hat sich verpflichtet, Kinder mit und ohne Förderbedarf künftig gemeinsam zu unterrichten.

Die Abkehr vom derzeitigen Sonderschulsystem schreibt eine UN-Konvention vor, die vor etwa drei Jahren (26. März 2009) in Kraft trat. Besonderen Förderbedarf haben in Deutschland rund eine halbe Million verhaltensauffällige, lern- oder körperbehinderte Schüler.

Ihr Anteil an der gesamten Schülerschaft steigt seit mehr als zehn Jahren kontinuierlich. Im Schuljahr 2010/2011 betrug die Förderquote 6,4 Prozent. Ein Jahr zuvor lag sie bei 6,2 Prozent.

Schulen in den nächsten zehn Jahren auf Inklusion umzustellen, kostet Geld. Die Schließung der meisten Förderschulen würde zwar Mittel freisetzen, dennoch bleibt ein zusätzlicher Finanzbedarf von rund 660 Millionen Euro pro Jahr, erläutert die Bertelsmann-Stiftung.

"Inklusion wird zur Normalität"

Bundesweit besucht nicht einmal jeder vierte Förderschüler eine Regelschule. Der Trend allerdings ist eindeutig: Im Schuljahr 2010/2011 stieg der Inklusionsanteil - also der Anteil der Schüler mit Förderbedarf, die nicht auf eine separate Sonderschule gehen - gegenüber dem Vorjahr von 20,1 auf 22,3 Prozent.

Spitzenreiter bei der Inklusion ist Schleswig-Holstein. Hier besuchen 49,9 Prozent aller lern- oder körperbehinderten Schüler eine reguläre Schule.

Auch Berlin und Bremen weisen einen Inklusionsanteil von mehr als 40 Prozent auf. Schlusslicht ist Niedersachsen, wo 8,5 Prozent der Förderschüler inklusiv unterrichtet werden.

"Inklusion wird mittelfristig zur Normalität an deutschen Schulen. Das stellt die Schulen vor riesige Herausforderungen, die sie nur mit genügend gut ausgebildetem Personal bewältigen können", sagte Jörg Dräger, Vorstandsmitglied der Bertelsmann Stiftung.

Begrüßenswert sei der Grundgedanke der Inklusion auch, weil auf einer Förderschule die Aussichten auf einen Schulabschluss nur gering sind. 75 Prozent der Förderschüler, die separat unterrichtet werden, erlangen nicht den Hauptschulabschluss.

"Der vermeintliche Schutzraum hat sich für viele als Isolationsfalle entpuppt", sagt Dräger. Wenn das Ziel erreicht werden solle, die Zahl der Hauptschulabbrecher in Deutschland zu halbieren, führe der Weg nur über eine Reform des Sonderschulsystems.

Umstritten war bislang, welche personelle Ausstattung inklusive Schulen benötigen, um alle Kinder angemessen zu fördern.

In einer neuen Studie der Bertelsmann Stiftung wird jetzt erstmals eine Berechnung vorgelegt, die den konkreten Bedarf benennt: Bundesweit werden in den kommenden zehn Jahren 9300 zusätzliche Lehrkräfte gebraucht, sofern jeder Förderschüler mit dem Förderschwerpunkt Lernen, soziale und emotionale Entwicklung und Sprache sowie die Hälfte aller anderen Förderschüler an Regelschulen unterrichtet werden sollen.

Umgerechnet bedeutet das im Vergleich zum Schuljahr 2009/2010 zusätzliche Kosten von jährlich rund 660 Millionen Euro, die in voller Höhe ab dem Schuljahr 2020/21 anfallen.

Die Summe entspricht etwas weniger als zwei Prozent der heutigen Gesamtkosten von Schule. "Inklusion ist notwendig und bezahlbar. Aber sie wird dort scheitern, wo Länder sie als Sparmodell betrachten", sagte Dräger.

Das Geld und die Stellen, die an bisherigen Förderschulen frei werden, seien nicht ausreichend, sofern der Umfang der Förderung nicht reduziert werden soll.

Eine hinreichende Personalausstattung der Schulen mit Lehrern, Sonderpädagogen, Psychologen und Therapeuten sei - neben dem durchgängigen pädagogischen Prinzip der individuellen Förderung - die wichtigste Voraussetzung für den Erfolg und die Akzeptanz von Inklusion.

Umfragen der Bertelsmann Stiftung in jüngerer Zeit hatten gezeigt, dass bei Lehrern und Eltern die Skepsis gegenüber Inklusion nach wie vor groß ist.

In seiner Berechnung geht der Bildungsforscher Professor Klaus Klemm davon aus, dass die bisherige Förderung der behinderten und verhaltensauffälligen Kinder vom Umfang her künftig auch in Regelschulen geleistet wird.

Für die einzelnen Bundesländer wird der Umbau ihrer Schulsysteme auf inklusiven Unterricht unterschiedlich teuer. Abhängig sind die Kosten von der jeweiligen demographischen Entwicklung.

Während in den westlichen Bundesländern im kommenden Jahrzehnt die Schülerzahlen zurückgehen, steigen sie in den meisten östlichen Bundesländern und Stadtstaaten.

Vor allem Länder wie Berlin, Hamburg, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen, die mehr Schüler als heute erwarten, müssen vergleichsweise große Anstrengungen unternehmen, um genügend Lehrkräfte für das gemeinsame Lernen bereitzustellen.

Es gibt mit Blick auf die Inklusion keinesfalls einen gesellschaftlichen Konsens. Differenzierte Positionen werden vor allem auch in der Lehrerschaft deutlich.

Der Philologenverband Niedersachsen zum Beispiel, in dem Gymnasiallehrer organisiert sind, bejaht zwar das in der UN-Behindertenrechtskonvention festgeschriebene Recht von Menschen mit Behinderung auf eine bestmögliche Bildung nachdrücklich.

Bei allen Maßnahmen zur Verwirklichung dieses Zieles müsse aber gemäß Artikel 7 der UN-Konvention das Wohl des Kindes oberste Richtschnur sein, betont der Vorsitzende des Lehrerverbandes, Horst Audritz, in einer Mitteilung.

Dies gelte auch für die strittige Frage, ob die Beschulung behinderter und nicht behinderter Kinder gemeinsam oder teilweise auch getrennt erfolgen solle.

Keine Einführung "im Schweinsgalopp"

Audritz wandte sich gegen Forderungen, die Förderschulen für Kinder mit verschiedensten Behinderungen generell abzuschaffen.

Es gebe Fälle von Mehrfachbehinderungen, Schwerstbehinderung und geistiger Behinderung mit einem individuellen Pflege- und Förderbedarf, die in aller Regel nur eine Förderschule mit hochqualifizierten Lehrkräften, zusätzlichem Fachpersonal sowie Spezialeinrichtungen bestmöglich beschulen und betreuen könne.

Audritz warnte davor, die Inklusion "im Schweinsgalopp" einzuführen. Ohne umfangreiche personelle und sächliche Zusatzausstattung sei eine gemeinsame Beschulung zum Scheitern verurteilt.

Er forderte eine sachbezogene Debatte, die nicht immer gegeben sei. Problematisch sei, dass die Anhänger einer totalen Inklusion die Kritiker dieser Richtung moralisch abqualifizierten, indem sie deren Position mit diskriminierenden Vokabeln wie "aussortieren", "aussondern" oder "selektieren" in Zusammenhang brächten.

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