Freud nannte seinen Kollegen den "Oberpapst" der Psychiatrie

Von Klaus Brath Veröffentlicht:

Klein, gedrungen, vierschrötig, "gar nicht so, wie ich mir einen großen Seelenarzt vorgestellt hatte" - so wurde Emil Kraepelin von Kurt Kolle, einem seiner Nachfolger auf dem Münchner Lehrstuhl für Psychiatrie beschrieben. Kraepelins "unvergängliches Werk" bewunderte Kolle allerdings - und mit ihm die Fachwelt. Heute vor 150 Jahren wurde der "Wegbereiter der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts" (Heinz Schott und Rainer Tölle in ihrer "Geschichte der Psychiatrie", 2006) geboren.

Daß Kraepelin die Psychiatrie zu einer akademisch anerkannten Disziplin der Medizin erhob, ist Frucht einer fast lebenslangen Beschäftigung mit der Fachrichtung. Der in Neustrelitz gebürtige Kraepelin studierte in Würzburg und Leipzig Medizin, wo er von dem Experimentalpsychologen Wilhelm Wundt maßgebliche Impulse erhielt.

Nach seiner Münchner Assistenzzeit bei Bernhard von Gudden und der Habilitation in Leipzig wurde er auf die Lehrstühle von Dorpat (1886), Heidelberg (1891) und München (1903) berufen. 1926 starb er in München.

Dort hatte Kraepelin vorbildliche institutionelle Voraussetzungen für seine epochale Durchsetzung der klinischen Forschungsmethodik gehabt: die 1904 neu eröffnete Psychiatrische Universitätsklinik, in der Koryphäen wie Alois Alzheimer und Robert Gaupp arbeiteten, und die 1917 gegründete, damals weltweit einzigartige Stiftung "Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie" (heute Max-Planck-Institut für Psychiatrie).

Kraepelin war innovativ auf vielen bis heute wichtigen Gebieten. Er führte experimentalpsychologische Forschungsmethoden in die Psychiatrie ein, begründete die Psychopharmakologie, initiierte die transkulturelle Psychiatrie und bahnte mit arbeitsmedizinischen Studien die chronobiologische Forschung an.

Vor allem jedoch schuf er ein einflußreiches, immer wieder empirisch überprüftes und modifiziertes Klassifikationssystem, das genetische und neuropathologische Befunde ebenso berücksichtigte wie Symptomatik und insbesondere Verlauf einer Erkrankung.

Herausragendes Resultat seiner Nosologie war die Dichotomie von Dementia praecox (heute Schizophrenie) und manisch-depressivem Irresein, mit der Emil Kraepelin das Begriffswirrwarr der alten Psychiatrie beendete. Die neun Auflagen von Kraepelins berühmtem Psychiatrie-Lehrbuch (1883 bis 1927 posthum) dokumentieren eindrucksvoll die Fortschritte im Krankheitsverständnis.

So offen und vielseitig Kraepelin auch war - für Freuds Psychoanalyse fehlte ihm der Sinn. In seinen "Lebenserinnerungen" wird der ebenfalls 1856 geborene Freud nicht einmal erwähnt; dieser titulierte Kraepelin ironisch als "Oberpapst" der Psychiatrie.

Für eine breite Öffentlichkeit hat Freud inzwischen seinem Antipoden längst den Rang abgelaufen, nicht jedoch für die meisten psychiatrischen und historischen Fachvertreter. So urteilt der US-amerikanische Medizinhistoriker Edward Shorter: "Kraepelin, nicht Freud, ist die zentrale Figur der Psychiatriegeschichte."



Verlag bringt Edition über Emil Kraepelin

Derzeit wird von Wolfgang Burgmair, Eric Engstrom und Matthias Weber im Verlag belleville, München, die "Edition Emil Kraepelin" herausgegeben. Bisher erschienen:

Bd. I: "Persönliches, Selbstzeugnisse"' (2000). ISBN 3-933510-90-2 Bd. II: "Kriminologische und forensische Schriften: Werke und Briefe'" (2001). ISBN 3-933510-91-0 Bd. III: "Briefe I, 1868-1886". (2002). ISBN 3-933510-92-9 Bd. IV: "Kraepelin in Dorpat, 1886-1891" (2003). ISBN 3-933510-93-7 Bd. V: "Kraepelin in Heidelberg, 1891-1903" (2005). ISBN 3-933510-94-5

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