Buchtipp

Intensivtherapie des Sozialstaats

Der Sozialrichter Jürgen Borchert fordert einen Umbau, bei dem kein Stein auf dem anderen bliebe.

Florian StaeckVon Florian Staeck Veröffentlicht:

Der Patient ist nicht nur krank, er ist todkrank: Die einzige Therapie, die Heilung verspricht, ist für Dr. Jürgen Borchert die Bürgerversicherung XXL.

In seinem neuen Buch "Sozialstaatsdämmerung" erklärt Borchert, Vorsitzender Richter am Hessischen Landessozialgericht, den Sozialstaat bisheriger Prägung für marode. Hinter der "ehrwürdigen Fassade unserer ‚Solidarsysteme‘ findet eine Umverteilung von unten nach oben, von Jung zu Alt und von Familien zu Kinderlosen statt", heißt es.

Als Hauptkriterien einer Reform nennt er die "Abkoppelung der Finanzierung von den Löhnen, Transparenz, Bemessung der Abgabenlast nach Leistungsfähigkeit, Umverteilung von oben nach unten sowie Familiengerechtigkeit".

Ermöglichen soll dies ein einheitliches Sicherungssystem für die Lebensrisiken Alter, Krankheit und Pflege. Dieses soll auch für die freien Berufe gelten: "Der Sozialstaat kann nur dann funktionieren, wenn für alle in ihm dieselben Regeln gelten."

Angekoppelt werden sollte die Beitragsbemessung an die Steuerschuld - so wie beim Solidaritätszuschlag. Alle Einkunftsarten müssten ohne Bemessungsgrenzen herangezogen werden.

"Transferausbeutung" der Familien

Mit Verve plädiert Borchert für ein "semantisches Großreinemachen" als Voraussetzung für ein verstehbares Steuer- und Sozialsystem. Das fängt für ihn beispielsweise beim Terminus "Rentenversicherung" an.

Der Begriff suggeriere den Bürgern, sie hätten mit ihren Rentenbeiträgen selbst für das Alter vorgesorgt. Mit der Rentenreform von 1957 wurden die Kosten der Altersversorgung sozialisiert.

Die Kosten der Kindererziehung blieben - anders als von den Vordenkern der Rentenreform vorgeschlagen - Privatsache der Familien.

Mit diesem Schritt, mit dem sich Kanzler Adenauer seine Wiederwahl sicherte, wurde das Fundament gelegt für eine "strukturelle Rücksichtslosigkeit der individualistischen Gesellschaft gegenüber den Bedürfnissen von Kindern und Familien".

Federführend bei der bisherigen - O-Ton Borchert - "Transferausbeutung" der Familien sind die Sozialversicherungen, die verteilungspolitisch eine noch schlimmere Wirkung als das Steuersystem hätten.

Denn die Beitragsbemessung erfolgt nicht wie bei der Einkommensteuer nach einem progressiven, sondern nach einem linear-proportionalen Tarif auf Einkommen aus nicht selbstständiger Arbeit, und zwar ab dem ersten verdienten Euro.

In dem Maße, wie Soziallasten immer stärker aus indirekten Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen finanziert werden, wurden "Wohlhabende im Lande zunehmend aus ihrer sozialstaatlichen Verantwortung entlassen", so Borchert.

Konstruktionsfehler des Sozialstaats korrigieren

Seit mehr als 30 Jahren ficht er dafür, Konstruktionsfehler des Sozialstaats zu korrigieren. Das "Trümmerfrauenurteil" des Bundesverfassungsgerichts vom Juli 1992 ist dabei eine erste Zäsur gewesen.

Darin erkannten die Richter: "Die Benachteiligung von Familien, in denen ein Elternteil sich der Kindererziehung widmet, wird weder durch staatliche Leistungen noch auf andere Weise ausgeglichen."

Bei Familien, so das Fazit Borcherts, "kumulieren und kulminieren sich die Verteilungsfehler" der verschiedenen Sozialsysteme, die gerne als "Solidargemeinschaft" bezeichnet werden. Im April 2001 erklärten die Karlsruher Richter schließlich in ihrem Beschluss zur Pflegeversicherung ("Beitragskinder-Urteil) die Belastung von Eltern für verfassungswidrig.

Vielmehr müssten Kindererziehung und Geldbeiträge als gleichwertig bewertet werden. Der Gesetzgeber hat darauf ab 2005 mit einem geringfügig höheren Betrag für Kinderlose reagiert.

Der mehrfache Wink der Richter, dass diese Schieflage für alle intergenerationell verteilenden Systeme - also auch für die Gesetzliche Krankenversicherung - gilt, hat der Gesetzgeber seitdem geflissentlich übersehen.

Mittlerweile sind beim Bundessozialgericht drei Revisionsverfahren anhängig, die das Ziel haben, die Essenz des Beitragskinderurteils (Gleichwertigkeit von Kindererziehung und Geldleistung) auch auf die GKV zu übertragen.

Borchert wirkt auch bei diesen Verfahren als Motor.Man mag Borcherts Analysen ganz, teilweise oder aber gar nicht teilen. Kalt lässt sein von Furor getragenes Buch niemanden.

Jürgen Borchert: Sozialstaatsdämmerung. München 2013. ISBN 978-3-570-50160-3

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