Syrien

Kranke wurden gezielt angegriffen

Nach dem mutmaßlichen Giftgas-Einsatz im syrischen Bürgerkrieg denken die USA über einen Vergeltungsschlag nach. Welche Folgen ein Angriff für die medizinische Versorgung in Syrien hätte, beschreibt Dr. Frank Dörner, Geschäftsführer der deutschen Sektion von Ärzte ohne Grenzen, im Interview.

Thorsten SchaffVon Thorsten Schaff Veröffentlicht:
Die Ärzte ohne Grenzen haben sich in Syrien auf die chirurgische Akutversorgung spezialisiert.

Die Ärzte ohne Grenzen haben sich in Syrien auf die chirurgische Akutversorgung spezialisiert.

© i Images / imago

Ärzte Zeitung: Wie stellt sich die Gesundheitsversorgung in Syrien dar?

Dr. Frank Dörner: Das Gesundheitssystem ist weitestgehend zusammengebrochen. In vielen Gebieten, in denen Bürgerkrieg herrscht, ist die Situation absolut dramatisch.

Selbst die wenigen noch existierenden Krankenhäuser haben zunehmend keine Möglichkeiten mehr, an Medikamente und Verbandsmaterial heranzukommen. Alles, was man zur Notbehandlung von akut Erkrankten braucht - sei es bei infektiösen Fällen oder vor allem bei Verletzungen und kriegsbedingten Wunden - ist extrem schwer zu bekommen.

Im Norden von Syrien unterhalten die Ärzte ohne Grenzen selbst sechs Krankenhäuser. Wie hilft Ihre Organisation bei der medizinischen Versorgung rund um Damaskus?

Dr. Frank Dörner ist Geschäftsführer der deutschen Sektion von Ärzte ohne Grenzen. Der Hamburger Allgemeinmediziner arbeitet seit 1998 für die Organisation.

Dr. Frank Dörner ist Geschäftsführer der deutschen Sektion von Ärzte ohne Grenzen. Der Hamburger Allgemeinmediziner arbeitet seit 1998 für die Organisation.

© Matthias Balk / dpa

Dörner: Wir stehen seit 2012 mit mehreren Kliniken in den Kriegsgebieten im engen Austausch und beliefern sie mit Medikamenten, Verbandsmaterial, Infusionslösungen usw. Vor Ort selbst arbeiten keine Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen, die medizinische Versorgung übernehmen syrische Ärzte und Krankenpfleger.

Von ihnen hatten wir am 21. August auch die fürchterliche Nachricht erhalten, dass in drei unterschiedlichen Kliniken innerhalb von wenigen Stunden über 3600 Patienten mit schweren neurotoxischen Symptomen eingeliefert wurden - was darauf hindeutet, dass diese Menschen Nervengift ausgesetzt waren.

Aber sicher sind Sie sich nicht.

Dörner: Nein, und das will ich auch betonen: Nach jetzigem Stand gibt es keinen Beweis dafür, dass es sich um Giftgas handelte. Wir können nur bestätigen, dass uns verlässliche und übereinstimmende Berichte von Ärzten und Krankenschwestern vor Ort vorliegen.

Nach eingehender Prüfung mussten wir zu dem Schluss kommen, dass es keinen Zweifel am Wahrheitsgehalt der geschilderten Situation gibt und dass sich das am ehesten mit einer Massen-Exposition von Nervengift erklären lässt.

Aber alle politischen und militärischen Überlegungen, die jetzt angestellt werden, haben per se nichts mit uns zu tun. Wir wollen nicht dafür missbraucht werden, um eine Entscheidung in irgendeine Richtung zu rechtfertigen.

Die unabhängige Prüfkommission war hier vor Ort, hat Blut- und Urinproben sowie Bodenproben genommen und wird ihre Ergebnisse vorlegen. Dann müssen die Verantwortlichen in der Politik sehen, was sie daraus machen.

Uns geht es nur um die medizinische Situation und da braucht es jetzt die Prüfergebnisse, damit das medizinische Personal und die Bevölkerung in die Lage versetzt werden, bestmöglich geschützt zu werden. Wenn ein solcher Vorfall erneut passiert, müssen die Opfer ja behandelt werden. Und die Ärzte müssen wissen, wie sie damit umzugehen haben - und auch, welche Schutzmaßnahmen sie für sich selbst ergreifen können.

Wie können sich Ärzte und Kliniken für einen weiteren Vorfall dieser Art wappnen?

Ärzte ohne Grenzen in Syrien

Die Organisation betreibt sechs Krankenhäuser, vier Gesundheitszentren und mehrere mobile Kliniken in den nordsyrischen Provinzen Idlib, Aleppo und ar-Raqqah.

Die Kliniken umfassen Chirurgie, stationäre und ambulante Abteilungen, Geburtsstationen, Kinderstation und psychologische Hilfe.

Mit Trainingsmaßnahmen und Material werden Behelfskiniken syrischer Ärzte unterstützt, die näher an der Front liegen.

325 Mitarbeiter sind im Einsatz.

58.000 Patienten wurden bislang behandelt, 2900 Op vorgenommen und 1100 Geburten begleitet. 80.000 Kinder wurden gegen Masern bzw. Polio geimpft.

27 Mio. Euro werden laut Planung für die medizinische Hilfe eingesetzt. 17 Mio. Euro sind an Spenden für Syrien eingegangen.

Dörner: Das ist unter den gegebenen Bedingungen sehr schwierig. Wir haben Notfallpläne mit den Kliniken besprochen und versuchen jetzt, so schnell wie möglich Medikamente wie Atropin, die bei solchen Vorfällen als Gegenmittel eingesetzt werden können, zu liefern.

Wir wollen nicht nur die Lagerbestände auffüllen, sondern sogar mehr zur Verfügung stellen, damit eine Behandlung möglich ist, wenn eine solche Situation noch einmal auftreten sollte.

Hatte der Vorfall Auswirkungen auf Ihre Arbeit und die medizinische Versorgung vor Ort?

Dörner: Nein, eigentlich nicht. In den syrischen Kriegsgebieten tätig zu sein, war schon immer besonders schwierig. Gezielte Bombenangriffe auf medizinische Einrichtungen oder Fahrzeuge, die als solche eigentlich gekennzeichnet sind finden häufig statt - von den unterschiedlichen Parteien.

Sobald bekannt wird, dass eine Klinik existiert, besteht das Risiko, dass sie oder die Menschen, die dorthin kommen, gezielt angegriffen werden. Medizinische Hilfe zu suchen, ist schlicht gefährlich.

Was ist bei der medizinischen Versorgung in Syrien am wichtigsten?

Dörner: Wir haben uns in Syrien von Anfang an auf die chirurgische Akutversorgung spezialisiert, um den Menschen, die in kriegerischen Auseinandersetzungen verletzt worden sind, direkt helfen zu können.

Bei lang andauernden Konflikten wie in Syrien ist es oft so, dass die Gesundheitsstruktur irgendwann zusammenbricht, was zur Folge hat, dass auch normale oder chronische Erkrankungen für die Menschen lebensbedrohlich werden können, wenn sie nicht behandelt werden.

Auch die Gesundheit der Kinder wird zunehmend in Mitleidenschaft gezogen, wenn zum Beispiel Impfungen nicht mehr durchgeführt werden, was zu Ausbrüchen und einer steigenden Mortalität führen kann.

Die Situation könnte sich zuspitzen, wenn der US-Kongress Präsident Obama folgt und einen Militärschlag beschließt.

Dörner: Ob es zu einem Militäreinsatz kommt oder nicht: Es ist auf jeden Fall davon auszugehen, dass sich die Situation für die Bevölkerung deutlich verschlechtert, und dass gerade auch die medizinische Versorgung darunter leiden wird.

Die aktuelle Berichterstattung führt ja dazu, dass immer mehr Menschen aus Damaskus und der Umgebung fliehen, darunter sind auch Ärzte und Krankenschwestern. Das hat natürlich Folgen für die Infrastruktur: Das Wenige, das noch existiert, ist jetzt auch noch gefährdet.

Wie bereitet sich Ihre Organisation auf einen möglichen US-Militäreinsatz vor?

Dörner: Ein US-Militäreinsatz ist ja noch spekulativ. Aber natürlich machen wir uns Gedanken, auch wenn wir in den Gebieten, die vermutliche Angriffsziele sind, keine eigenen Mitarbeiter haben.

Für uns ist ganz klar: Die Sicherheit unserer Mitarbeiter ist hochprioritär. Wir wollen und werden keine unkalkulierbaren Risiken eingehen.

Doch solange es geht, bleiben wir in Syrien, um Hilfe zu leisten. Die Kollegen in den Konfliktregionen verdienen auch die bestmögliche Unterstützung. Man muss ihnen allerhöchsten Respekt zollen: Sie nehmen sämtliche Gefahren auf sich und bleiben dort, um die notleidenden Menschen zu versorgen - unter Einsatz ihres eigenen Lebens. Das ist etwas sehr Bewundernswertes.

Wie verändert sich die Arbeit vor Ort, wenn die USA angreifen sollten?

Dörner: Grundsätzlich gilt: Das medizinische Personal muss sich immer an die Gegebenheiten vor Ort anpassen, sie geben die Art und Weise vor, wie Ärzte behandeln können.

Zum Beispiel werden sich Ärzte in den syrischen Krisengebieten aufgrund der hygienischen Zustände bestimmt überlegen, früher antibiotisch zu behandeln, als sie es unter anderen Umständen täten.

Was einen US-Angriff betrifft: Er würde dazu führen, dass es noch mehr Opfer gibt und sich die medizinische Versorgung verschlechtert. Eine militärische Lösung wäre mit sehr, sehr viel Zweifel und mit sehr viel Leid verbunden.

Lesen Sie dazu auch: Krieg in Syrien: Chemie als Waffe Syrischer Arzt: "Ich habe alles verloren!"

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