Sorge um Tochter und Landsleute

Ukrainische Hausärztin aus Magdeburg: „Russland kann uns besetzen, aber niemals erobern“

Im Leben von Hausärztin Nadiya Pilipcuk aus Magdeburg ist fast nichts so wie vor dem russischen Überfall auf ihr Heimatland. Nach der Praxis organisiert sie Hilfe für die Ukraine – immer in Sorge um ihre Tochter, die in Lwiw lebt.

Von Petra Zieler Veröffentlicht:
Groß ist die Not in den ukrainischen Kriegsgebieten.

Groß ist die Not in den ukrainischen Kriegsgebieten.

© picture alliance / ZUMAPRESS.com | SOPA Images

Magdeburg. „Mein früheres Leben ist wie ein vergangenes Märchen“, sagt Nadiya Pilipcuk, Hausärztin in Magdeburg, die aus der Ukraine stammt. Wie bei den meisten ihrer Landsleute, die im Ausland leben, geht in diesen Zeiten der erste Blick nach wenigen Stunden Schlaf aufs Handy. Wie ist die Lage, wie geht es Verwandten, Freunden, Kollegen?

„Meine Tochter ist in Lwiw. Sie bringt Medikamente, Hilfsmittel, die wir in die Heimat schicken, mit ihrem eigenen Pkw in Krankenhäuser, Kinder- oder Altenheime. Dahin, wo die Not am größten ist.“ Die Bitten der Mutter, nach Hause, nach Magdeburg zu kommen, bleiben ungehört. „Sie ist doch hier geboren“, sagt die Allgemeinmedizinerin und leiser, wie zu sich selbst: „Ihre Seele ist eben ukrainisch.“ Während der täglichen Anrufe ist wenig Zeit für Persönliches.

Überwältigende Hilfsbereitschaft

Die 23-jährige Medizinstudentin gibt ihrer Mutter meist nur die Liste mit Medikamenten durch, die am dringendsten gebraucht werden. „Aber ich weiß, sie lebt.“ Mit diesem Wissen geht Nadiya Pilipcuk in ihre Magdeburger Praxis. Jeden Tag. „Die Patienten brauchen mich doch auch.“ Rund 1300 pro Quartal. Deutsche, Russen. Die meisten fühlten mit, fragen, wie sie konkret helfen können.

Die Hilfsbereitschaft überwältige sie, sagt die Ärztin. „Es gibt aber auch Russen hier in Magdeburg, die Putins Lügen glauben.“ Wie jener Patient, der auf die ukrainischen Faschisten schimpfte und von Befreiungseinsatz sprach. „Was ich ihm berichtete, glaubte er nicht. Da habe ich gesagt: Dann bin ich auch so eine Faschistin. Sie sollten sich einen anderen Hausarzt suchen. Ja, das gibt es auch.“

Ukrainischer Oberarzt bringt Flüchtlinge zu Hause unter

Zwischendurch ein kurzes Telefonat mit Vadym Lifshits. Das Haus des Anästhesie-Oberarztes am Klinikum Magdeburg ist mittlerweile Schaltzentrale und Wohnheim. Flüchtlinge aus der Ukraine kommen hier erst mal unter, ehe sie weitergeleitet werden. Vadyms 21-jähriger Sohn will in seiner 32 Quadratmeter großen Wohnung die Tochter einer Freundin aufnehmen.

„Sie ist gerade auf dem Weg nach Deutschland. Ihre Mutter, eine Ärztin, bleibt im Krieg. „Dort werde sie gebraucht, sagte sie mir. Das ist so mutig.“ Auch ein Schwager fährt Hilfsgüter von der Grenze in die am meisten betroffenen Gebiete. „Er will als Partisan kämpfen, falls Putin unser Land übernehmen sollte.“

„Die Patienten brauchen mich doch auch“: Hausärztin Nadiya Pilipcuk.

„Die Patienten brauchen mich doch auch“: Hausärztin Nadiya Pilipcuk.

© Petra Zieler

Noch im Februar war Vadym mit einem Freund im Skiurlaub. „Am Freitag habe ich ihn zum Flieger Richtung Ukraine gebracht. Am Donnerstag darauf fielen die Bomben.“ Seitdem beginnt für den Arzt sofort nach der Arbeit ein neuer Alltag.

Nahezu täglich ist er in der Ausländerbehörde, um Aufenthaltsgenehmigungen zu beantragen, besorgt Prepaid-Karten für seine Landsleute, organisiert, was immer zu organisieren ist. Der 52-Jährige ist froh über die viele Unterstützung. „Unser Klinikum hat einen eigenen Transporter in die Ukraine geschickt mit Beatmungsgeräten, Medikamenten und Verbandsmaterial.“

Niemals unter dem Stiefel Russlands

Nadiya Pilipcuk, die seit 1997 in Magdeburg lebt, hat vor zwei Wochen eine ukrainische Bekannte mit ihren vier Kindern nach Magdeburg geholt. Sie hatte es nach Polen geschafft und war mit dem Bus weiter Richtung Berlin gefahren. Der Vater ist in der Heimat geblieben. Er will kämpfen. „Ich hatte die Frau das letzte Mal vor etwa vier Monaten gesehen – lebenslustig, schön mit ihren dunklen Haaren. Beim Wiedersehen war sie grau.“

Doch noch mehr hat Nadiya Pilipcuk die Frage des vierjährigen Sohnes erschüttert: Kommen in dein Magdeburg wirklich keine Russen? „Wie viele Kinder will dieser Mörder noch traumatisieren? Wie viele Leben zerstören? Russland kann uns besetzen, aber erobern wird es uns nie.“

400 Jahre habe ihr Land um Unabhängigkeit gekämpft. „Ukrainer wollten nie unter dem Stiefel Russlands leben. Als wir 1991 frei waren, hat mein Vater geweint.“ Weil er als Student mit seinen Kommilitonen ukrainische Lieder im Wohnheim gesungen hat, war er zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt worden, kam 1952 nach Sibirien. 1953 starb Stalin. „Mein Vater musste ,nur‘ fünf Jahre in Sibirien bleiben. Aber er war danach ein anderer.“

In den wenigen Momenten der Muße fragt sich die Hausärztin manchmal, wofür russische Soldaten kämpfen. 19-, 20-Jährige mit Träumen, Flausen im Kopf, Plänen von Glück und vielleicht Familie. „Wollen sie wirklich für den weltweit größten Terroristen sterben, ihre Mütter für immer unglücklich machen?“

Nadiya Pilipcuk denkt an einen Urlaub vor einigen Jahren auf Sardinien. Die Reiseleiterin hatte auf ein riesiges Anwesen mit Villa und eigenem Landeplatz hingewiesen. Dies sei Putins Residenz in Italien. „Er betrügt und belügt sein eigenes Volk.“

Acht LKW in die Ukraine geschickt

Die Hausärztin macht sich auf den Weg in eine große Lagerhalle mitten in Magdeburg, in der Spenden für die Ukraine gesammelt, gelagert, verpackt und versandt werden. Hier spricht auch Antri Zakharchuk aus Zhytomir (100 Kilometer von Kiew entfernt) von russischen Soldaten.

„Viele von denen haben doch noch Milch im Gesicht. Warum schickt der Verbrecher sie in den Tod?“ Antri ist Student. In diesem Monat wollte er an der hiesigen Universität seine Masterarbeit verteidigen. „Das kann warten. Jetzt gibt es Wichtigeres“, sagt der 26-Jährige.

Acht LKW – jeweils 40-Tonner – haben er und seine Mitstreiter bereits auf die Reise in die Ukraine geschickt, mit Medikamenten, Windeln, Nahrungsmitteln, mit Verbandsmaterial, Schlafsäcken, Isomatten oder Taschenlampen. „Im Moment bin ich hier eine gute Stütze. Sollte die Lage weiter eskalieren, kämpfe ich in meiner Heimat.“ Mit Mut habe das nichts zu tun, sagt Antri. „Wir Ukrainer lieben unser Land. Wir sind bereit, alles zu geben.“

Zum Schluss umarmt er mich. „Wenn jeder etwas tut, Lieder komponieren, Spenden organisieren, Artikel für die Ärzte Zeitung schreiben, wenn jeder macht, was er kann, werden wir gewinnen. Du und ich, wir werden glücklich sein – im Frieden.“

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