Urinschau als Königsweg der Diagnostik

Für Ärzte des 18. Jahrhunderts war die Analyse des "Säftehaushaltes" der wichtigste Anhaltspunkt für den Gesundheitszustand von Patienten. Neue Einblicke in die damalige Arbeit von Ärzten gibt das Praxistagebuch von Johann Friedrich Glaser, der als "Amtsphysikus" in Suhl praktizierte.

Von Eugenie Wulfert Veröffentlicht:
Urinschau als Diagnostik-Verfahren: Dieses Bild von 1775 zeigt Konsultationen beim Schweizer Wundarzt Michel Schüppach.

Urinschau als Diagnostik-Verfahren: Dieses Bild von 1775 zeigt Konsultationen beim Schweizer Wundarzt Michel Schüppach.

© Bildarchiv British Museum

Die direkte, persönliche Behandlung des Kranken war im 18. Jahrhundert nach bisherigen Erkenntnissen nur wenig verbreitet. Viel häufiger kam es zu Ferndiagnosen mit nachfolgenden mündlichen oder schriftlichen Therapieanweisungen sowie Hausbesuchen.

Umso außergewöhnlicher ist der Fall von Johann Friedrich Glaser, der seine Patienten offenbar in seiner Praxis behandelte. "Das ist erstaunlich, weil das gängige Bild einer vormodernen Arztpraxis eigentlich dem Modell des Hausbesuches entspricht", sagt Dr. Ruth Schilling, die am Institut für Geschichte der Medizin an der Charité den ärztlichen Alltag in der Frühen Neuzeit erforscht.

Wenn der Säftehaushalt aus dem Gleichgewicht kommt

Glaser war nach Angaben von Schilling der jüngste Sohn eines Scharfrichters und promovierter Arzt, der als kursächsischer Amtsphysikus eine Praxis im thüringischen Suhl betrieb. Dank seines Praxistagebuchs lässt sich ein Einblick in diese für die Frühe Neuzeit nicht ganz gewöhnliche Arztpraxis gewinnen.

Das Buch umfasst die Jahre 1750 bis 1763 und besteht aus Konsultationseinträgen, die chronologisch geordnet sind. Nach Datum werden Name des Konsultierenden, sein Beruf, seine Herkunft, Alter, Diagnose und Rezeptur sowie Urinschau und Rechnungsstand angegeben. "Die Tagebücher waren also eine Mischung aus Rezeptur- und Kassenbuch", sagt Schilling.

Wichtig sei dabei vor allem, ob der Besucher schon einmal da war und ob er noch Schulden zu begleichen hatte. "Das schrieb Glaser meist als Notiz über die eigentlichen Einträge", berichtet die Wissenschaftlerin.

Im Praxistagebuch (1750 - 1763) notierte der Arzt Johann Friedrich Glaser auch, wer noch Schulden bei ihm hatte.

Im Praxistagebuch (1750 - 1763) notierte der Arzt Johann Friedrich Glaser auch, wer noch Schulden bei ihm hatte.

© Schilling.

Aber selbst wenn ein Patient direkt vor Glaser stand, so war seine Interaktion mit dem Arzt doch sehr viel anders als heute. "Wie bei dem Modell der Konsiliarpraxis galt nicht die körperliche Untersuchung als Königsweg der Diagnostik, sondern die Bestimmung des Säftehaushalts und seines möglichen Ungleichgewichts anhand des Urins", sagt die Wissenschaftlerin.

Erstaunlich sei die "Tatsache, dass der Urin sich während eines längeren Transports verfärbte und dies zu vielschichtigen Diagnosen führte, was keinen zu stören schien". Im Gegenteil: dies habe im frühneuzeitlichen Verständnis eher das Vertrauen in diese Methode erhöht.

Die Urinschau war für die Ärzte aber auch aus finanzieller Sicht sehr wichtig, ergänzt Schilling. Denn sie war eine extra bezahlte ärztliche Leistung.

Direkte körperliche Untersuchungsmethoden werden im Suhler Tagebuch laut Schilling nicht dokumentiert. Glaser notierte vielmehr neben Angaben zur Identifikation des Kranken andere Faktoren, die seiner Meinung nach den Krankheitszustand hervorgerufen haben.

Dazu gehörten außer der physischen Verfassung auch Informationen über den körperlichen Zustand von Verwandten - eine bestimmte constitutio galt durchaus als vererbbar -, aber auch über äußere Einwirkungen, die zu einer Krankheit geführt haben könnten.

"Als besonders einleuchtend galt dabei der Zusammenhang zwischen einem großen Schreck über ein Ereignis - wie eine in den Brunnen gefallene Kröte oder der Anblick plündernder Soldaten -, der dann über Jahre hinweg zu einem Ungleichgewicht im Säftehaushalt führen konnte", erläutert Schilling die damalige Sichtweise.

Kein fester Patientenstamm, aber großer Besucherkreis

Die Konsultationseinträge im Tagebuch enthalten Ketten an Symptombeschreibungen, die einem noch rein semiotisch geprägten Krankheitsverständnis entsprechen: Alle Beschwerden sind Ausdruck eines bestimmten, ganzheitlich begriffenen körperlichen Zustandes.

Die Forschung zu dem Tagebuch ergab, dass Glaser, wenn auch keinen festen Patientenstamm, so doch zumindest einen festen Besucherkreis hatte. Wirtschaftlich gesehen ist es nach Angaben der Forscherin dem Arzt aus Suhl gelungen, Patienten aus einem großen Umkreis in seine Praxis zu locken: "Die Menschen scheuten keine Mühe, um an seine Diagnosen und Arzneimittel zu kommen", berichtet Schilling.

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