Dokumentarfilm startet in den Kinos

Wie ein kleines Heim die Pflege bei Demenz revolutioniert

Kuchen statt Medikamente, Berührung statt Einsamkeit: Ein Pflegeheim in Dänemark macht vieles anders und einiges richtig im Umgang mit Demenzkranken. Ein Dokumentarfilm erzählt die Geschichte der kleinen Gemeinschaft.

Von Thomas Hommel Veröffentlicht:
Heimbewohnerinnen (v.l.n.r.) Birthe und Grethe erfreuen sich mit Pflegerin Lotte an Berührungen im Wald.

Heimbewohnerinnen (v.l.n.r.) Birthe und Grethe erfreuen sich mit Pflegerin Lotte an Berührungen im Wald.

© Per Fredrik Skioeld

Berlin. Das Thema Demenz etabliert sich in der internationalen Kinowelt. Gleich zwei große Dramen drehen sich aktuell um die „Krankheit des Vergessens“: „The Father“ mit Anthony Hopkins und „Supernova“ mit Stanley Tucci und Colin Firth. Letzterer Film startet ab dem 14. Oktober in Deutschland.

Einen ebenso anrührenden Film über Demenz, aber einen mit realen Menschen hat die dänische Journalistin und Dokumentarfilm-Regisseurin Louise Detlefsen fürs Kino gedreht.

An diesem Donnerstag (23. September) läuft „Mitgefühl. Pflege neu denken“ in den deutschen Filmtheatern an. Im Mittelpunkt steht das Pflegeheim Dagmarsminde in der Nähe von Gilleleje in Dänemark. Zwölf Senioren leben in dem Heim in einer Art Wohngemeinschaft zusammen. Sie sind um die 90 Jahre alt und alle mehr oder weniger schwer an Demenz erkrankt.

Umsorgen statt nur versorgen

Betreut werden sie nach einer Behandlungsmethode, die die Begründerin – die Krankenschwester May Bjerre Eiby – „Umsorgung“ nennt. Der deutsche Duden kennt den Begriff nicht. Dabei könnte er mit Blick auf eine würde- und liebevolle Pflege im Alter kaum einleuchtender sein: Berührung, Zuwendung, Gespräch, Gesang, Erleben in der Natur.

Module eines Konzepts, das Eiby aus eigener Erfahrung entwickelt hat: Auch ihr Vater erkrankte an Demenz und kam in das Heim, in dem sie als 17-Jährige gearbeitet hatte. Alles dort sei „grau“ gewesen. Es habe nach Urin gerochen. Und obwohl er stark war, sei der Vater nach kurzer Zeit im Heim an „schwerer Vernachlässigung“ gestorben.

Also kaufte Eiby eine alte Tischlerei und machte 2016 daraus Dagmarsminde: Ein Heim mit Holzfußböden, feinem alten Porzellan, frischen Blumen, Pflanzen, einem weißen Klavier, Ledersofas, vielen Bildern, einer Katze und einem Hund. Im Garten gibt es Hühner, Ziegen und Kaninchen, die quasi Mit-Therapeuten sind. Denn die Heimbewohner helfen, Eier zu sammeln und die Tiere zu füttern.

Dagmarsminde wird als freies Pflegeheim betrieben. Die Pflege wird wie in allen kommunalen Heimen Dänemarks von der öffentlichen Hand bezahlt, sodass sich auch Menschen mit einer Durchschnittsrente einen Aufenthalt leisten können.

Die Warteliste ist lang

Pflegegrade gibt es nicht. Jeder mit Bedarf kann kommen. Die Wartelisten jedoch sind lang. „Wir glauben an Mitgefühl als Behandlungskonzept“, beschreibt Gründerin Eiby die Philosophie. Und es funktioniert: Statt vieler Medikamente gibt es Kaffee und Torte. Feiert das dänische Königshaus Geburtstag, stoßen die Bewohner von Dagmarsminde mit einem Gläschen Sekt oder Portwein fröhlich drauf an.

Verstirbt ein Bewohner wie zu Beginn des Films die „liebe Rita“, gedenkt die Gemeinschaft mit Rosen auf dem Sarg und einem Volkslied, das die Tote gerne sang. Wenn möglich, geht es raus an die frische Luft, Wiesen beschnuppern und Bäume umarmen. Ein Hausarzt sorgt als fester Ansprechpartner fürs Pflegeteam für die medizinische Betreuung.

„Mitgefühl“, sagt Regisseurin Detlefsen, möge in einem kleinen Pflegeheim auf dem Lande spielen und der Alltag dort nicht aufregend erscheinen. „Aber für mich ist es ein Drama über Leben und Tod. Werde ich allein gelassen, um elend zu sterben, oder wird sich am Ende jemand um mich kümmern, wenn ich schwach bin?“

„Konzepte liegen auf dem Tisch“

Fragen, die auch deutsche Pflegeexperten beschäftigen. An alternativen Konzepten wie Validation und Kinästhetik fehle es nicht, sagt etwa Helmut Wallrafen, Geschäftsführer der Sozialholding Mönchengladbach als Anbieter von Tagespflege, Kurz- und Langzeitpflege.

Es sei alles längst gesagt und aufgeschrieben. „Wir müssen es nur tun.“ Und eigentlich müsse jeder, der Pflege erlernt, ein Instrument beherrschen, zumindest aber singen können. „Ich kann damit wunderbar in die Welt von Menschen mit Demenz eintauchen. Das, was wir alle verstehen, das ist Tanz und Gesang.“

Fachkonzepte, wie es anders geht in der Pflege, lägen „auf dem Tisch“, betont auch Lutz Karnauchow, Chef des Berlin-Brandenburger Anbieters Domino-World. Dass die Ideen zu wenig angewendet würden, liege auch daran, dass sich die Debatte oft um Geld und um Personal drehe.

Aber nicht mehr lange, meint Karnauchow. „In einigen Jahren erreichen die Babyboomer das pflegebedürftige Alter. Kraft Masse und kraft Anspruch werden sie einen Systemwechsel erzwingen.“ Daher wäre es „schlau, Pflege und Älterwerden schon jetzt neu zu denken“.

Mitgefühl. Dokumentarfilm (96 Min.) OmU, Dänemark/Deutschland 2021. Infos: www.weltkino.de/mitgefuehl

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