„EvidenzUpdate“-Podcast

Was haben Leitlinien eigentlich mit Armut und Gerechtigkeit zu tun?

Medizinische Leitlinien sind ein Füllhorn von Evidenz, Tabellen und Fußnoten. Sie könnten aber auch sozialer Kitt sein. Darüber – und über Gin – diskutieren wir in dieser Episode vom „EvidenzUpdate“.

Prof. Dr. med. Martin SchererVon Prof. Dr. med. Martin Scherer und Denis NößlerDenis Nößler Veröffentlicht:
EvidenzUpdate mit DEGAM-Präsident Martin Scherer

EvidenzUpdate mit DEGAM-Präsident Martin Scherer

© [M] sth | Scherer: Tabea Marten

Alljährlich treffen sich Leitlinienentwickler und Methodennerds beim Gin bzw. beim GIN, der Tagung des Guidelines International Network. Dieses Jahr traf man sich in Toronto, Martin Scherer war mit dabei.* Ein Thema waren Rapid Guidelines, die gerade in der Corona-Pandemie Hochkonjunktur hatten. Über die Möglichkeiten und Erfahrungen aus anderen Ländern, Leitlinien schneller zu entwickeln, sprechen wir in diesem „EvidenzUpdate“.

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Vor allem aber sprechen wir über das Highlight-Thema der diesjährigen Tagung: Health Equity, gesundheitliche Chancengleichheit. Denn Leitlinien, Medizin, das war ein Fazit der Tagung, sind auch Teil der Sozialpolitik und können – müssen – helfen, Armut zu überwinden. Wie? Das diskutieren wird ebenso wie die Chancen durch Social Prescribing. (Dauer: 44:51 Minuten)

*) Die Emissionen durch die Reise hat er entsprechend kompensiert.

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Schreiben Sie uns: evidenzupdate@springer.com

Quellen:

  1. GIN 2022 Conference in Toronto. G.I.N. 2022. https://g-i-n.net/ (accessed 29 Sep 2022)
  2. The Health Foundation. Health Equity in England: The Marmot Review 10 Years On. 2020. https://health.org.uk/ (accessed 29 Sep 2022)
  3. Chatterjee HJ, Camic PM, Lockyer B, et al. Non-clinical community interventions: a systematised review of social prescribing schemes. Arts & Health 2017;10:97–123. doi: 10.1080/17533015.2017.1334002

Transkript

Nößler: Gin, wahlweise mit Soda oder Tonic, werden nicht nur heilsame Wirkungen zugeschrieben. Eine Überlieferung sagt auch, Gin sei ein Getränk der Mitteschicht gewesen, vermutlich aber weil Brandy zu teuer war. Reden wir heute also über Gin, aber ganz sicher nicht über C2. Damit herzlich willkommen zu einer neuen Episode vom EvidenzUpdate-Podcast. Cheers! Wir, das sind ...

Scherer: Martin Scherer.

Nößler: Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin der DEGAM und Direktor des Instituts und Poliklinik für Allgemeinmedizin am UKE in Hamburg. Und hier ist Denis Nößler, Chefredakteur der Ärzte Zeitung aus dem Haus Springer Medizin. Moin Herr Scherer nach Hamburg!

Scherer: Hallo Herr Nößler.

Nößler: Herr Scherer, trinken Sie eigentlich Gin?

Scherer: Das ist eine sehr direkte Einstiegsfrage. Wahrscheinlich fragen Sie im Hinblick auf den GIN-Kongress. Da denken natürlich die Leute, vier, fünf Tage GIN-Kongress, das bedeutet dann das eine oder andere Gin-haltige Getränk.

Nößler: So eine Degustationsveranstaltung.

Scherer: Es handelt sich um Guidelines International Network. Also das ist sozusagen die Leitlinienveranstaltung, weltweit ein internationaler Leitlinienkongress.

Nößler: Also Kongresse, wissen wir ja, wir waren ja erst in Greifswald, da trifft man sich und manchmal trifft man sich dann abends auch gesellig an der Bar. Guidelines International Network, da kommen Sie quasi total frisch jetzt her. Es ging bis zum Wochenende. Da kamen Sie zurück, war in Toronto. Ich glaube, das ist immer da oben, oder?

Scherer: Das ist tatsächlich ein Kongress, der seinen Austragungsort wechselt. Das war schon mal in San Francisco, zuletzt in Adelaide, diesmal in Toronto, nächstes Jahr dann in Glasgow. Also der wandert munter durch die Welt. Es ist immer natürlich die Frage: Muss das sein mit diesem Herumbereise? Aber von Zeit zu Zeit geht es nicht anders, dass man sich auch mal persönlich treffen muss. Und es lohnt sich allemal.

Nößler: Weil man doch subtil auch Informationen austauscht, wie wir immer wieder lernen. Erzählen Sie uns doch mal so ein bisschen. Guidelines International Network, also es hat was mit Leitlinien zu tun, Leitlinienentwicklung. Wahrscheinlich sitzen da ein Haufen Methodiker auch beisammen. Was ist das? Was wird da gemacht?

Scherer: Guidelines International Network ist eine Vereinigung, die die Leitlinienentwickler weltweit zur Mitarbeit und Zusammenarbeit einlädt. Das GIN, Guidelines International Network, hatte jetzt 20-jähriges Jubiläum, 20-jährigen Geburtstag. Gründungsvater Günter Ollenschläger, einst Direktor des ÄZQ Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin, und natürlich bekannt auch durch die nationalen Versorgungsleitlinien.

Nößler: Also fast schon so eine, darf man sagen deutsche Erfindung?

Scherer: Zumindest eine deutsche Miterfindung, das kann man schon sagen.

Nößler: Und was treffen sich dort für Leute? Wir wissen, Martin Scherer war dort. Was kommen da noch so für Leute hin?

Scherer: Das sind Healthcare Professionals unterschiedlicher Ausrichtung und Fachrichtung, Ärztinnen und Ärzte unterschiedlicher Disziplin, von der Gynäkologie über die Allgemeinmedizin bis hin zur Notfallmedizin, Onkologie, aber auch viele Methodikerinnen und Methodiker. Das sind Menschen, die arbeiten bei Cochrane, bei NICE, zum Beispiel aus der US Preventive Services Task Force – Sie wissen, Statine, letzte Folge.

Nößler: Genau.

Scherer: Da waren Menschen dabei. Oder auch jemand aus dem Gesundheitsministerium Singapur. Also die Gesundheitsbehörden waren vertreten, die Methodiker waren vertreten, die Medizin war vertreten. Und so trifft man sich und tauscht sich aus über Methodik, aber auch über normative Aspekte von Leitlinien.

Nößler: Normative Aspekte. Kommen wir vielleicht gleich noch mal drauf, weil Sie haben zwei Themen mitgebracht. Ich möchte aber gern noch mal, dass Sie uns mal mitnehmen auf die letzte Konferenz. Jetzt waren wir natürlich alle nicht dort. Ich stelle es mir vor als klassische Tagung, klassische Konferenz. Da gibt es Workshops, da gibt es Vorträge, da trifft man sich, vielleicht auch in Panels. Dann tausch man sich aus unter Kollegen. Was machen Sie da? Entwickeln Sie da gemeinsam Leitlinien oder entwickeln Sie die Leitplanken für Leitlinien?

Scherer: Man tauscht sich vor allem über Methodik aus, versucht, Kooperationen zu knüpfen und versucht auch, nicht das Rad in jedem Land wieder neu zu erfinden. Es fällt schon auf, dass unterschiedliche Länder auch unterschiedliche Förderungen von Leitlinien haben. Hier in Deutschland ist das hauptsächliche ehrenamtliche Tätigkeit, Aufgabe der Fachgesellschaften, obwohl wir jetzt aktuell eine sehr gute Förderung durch den Innovationsfonds haben. In anderen Ländern ist es eine hoheitliche Aufgabe der Gesundheitsbehörden. Also da gibt es völlig unterschiedliche Eingangsvoraussetzungen. Aber Tatsache ist, dass die zugrundeliegende Evidenz doch sehr ähnlich ist. Und dass gerade jetzt in der Covid-Pandemie die Plattformen fehlten, sich gut zu vernetzen und Synergien zu nutzen. Also da hatte man schon den Eindruck, dass in unterschiedlichen Ländern die gleiche Arbeit gemacht wird. Und genau dafür ist eigentlich so ein Netzwerk da, dass man die Energie bündelt.

Nößler: Voneinander lernt und Dinge auch mitnimmt.

Scherer: Ja.

Nößler: Das Rad nicht zweimal erfinden. Sie haben gesagt, es geht dort auch um normative Dinge bei Leitlinien, bei der Leitlinienentwicklung. Leitlinien sind ja, wenn ich es mal mit meinen Worten versuche zusammenzubringen, auch ein Abbild in einem Teil einer Gesellschaft, wie wir wollen, dass eine Gesellschaft funktionieren soll, unter Medizinern halt medizinische Versorgung. Sie haben zwei Themen mitgebracht aus Toronto. Einmal das Thema Rapid-Guidelines, die haben ja Hochkonjunktur in der Pandemie gehabt, und das Thema Health Equity, also gesundheitliche Chancengleichheit. Was mich beim letzten Aspekt tatsächlich sofort interessiert hat oder wo sofort ein Fragezeichen kam, war: Warum beschäftigen sich Leitlinienentwickler – ich sage jetzt mal, mit Verlaub, Methoden-Nerds – mit so einem doch eher sozialen Phänomen?

Scherer: Weil Leitlinien, Clinical Practice Guidelines. eben nicht nur Bedeutung haben für die 1-zu-1-Patienten-Arzt/Ärztin-Patientin-Situation, sondern eben auch gelesen werden von Politikern, von den sogenannten Stakeholdern. Das heißt die klinischen Entscheidungsträger, die die Leitlinien anwenden, aber auch politische Entscheidungsträger, die von diesen Leitlinien Kenntnis erhalten, dass die dann auch auf Aspekte hingewiesen werden sollen, die in gewisser Weise auch einen politischen Charakter haben. Nehmen wir das Beispiel Multimorbidität. Wir hatten eine Arbeitsgruppe über Multimorbidität und Leitlinien und stellten fest, die Priorisierung auf der individuellen Ebene bei Patientinnen und Patienten mit Multimorbidität hat in der Pandemie gar nicht so gut funktioniert. Da wurde zum Teil die Patientenautonomie außer Kraft gesetzt, die Selbstbestimmung außer Kraft gesetzt. Es konnte gar nicht mehr in Ruhe eine Abwägung der Lebensziele und -werte gemacht werden. Das Arzt-Patienten-Gespräch war praktisch durch von außen gesetzte Normen beeinflusst. Da waren plötzlich andere Dinge wichtiger, zum Teil auch völlig zu Recht. Zu Beginn der Pandemie, da stand der Infektionsschutz an allererster Stelle. Aber das sind so Diskussionen, die es dann gibt, wo in der Leitlinie Multimorbidität drinsteht, du braucht ausreichend Zeit für das ärztliche Gespräch, um eben genau zu überlegen: Was machen wir zuerst? Welches Medikament kann man vielleicht absetzen? Welche der Erkrankungen oder Gesundheitsprobleme stellen wir ein bisschen zurück? Das braucht alles Zeit. Und diese Priorisierungen waren schwierig während der Pandemie. Über so was spricht man da. Aber man spricht natürlich auch über Themen wie soziale Ungleichheit. Und das ist natürlich auch eine Aufgabe von Leitlinienentwicklern, sich darüber Gedanken zu machen. Und nicht zuletzt hat NICE diese Merkmale aufgenommen in ihr Methodik-Portfolio. Also NICE hat ausdrücklich Alter, ethnische Zugehörigkeit und Geschlecht als sogenannte geschützte Merkmale identifiziert, die im Rahmen der britischen Gleichstellungsgesetzgebung berücksichtigt werden müssen. Und auch gerade die McMaster Universität – und jetzt schließt sich der Kreis nach Toronto – hat eine Checkliste zur Leitlinienentwicklung gemacht, wo die gesundheitliche Chancengleichheit drin abgebildet ist. Und auch GRADE-Arbeitsgruppe hat auch die gesundheitliche Chancengleichheit mit aufgenommen und sie wird in jeder Leitlinie bewertet.

Nößler: Das heißt, die drei Beispiele, die Sie da jetzt bringen, einmal von NICE von UK, McMaster und GRADE, die sehen schon, dass sie die Leitlinien noch stärker in gesellschaftlichen Kontext auch einbetten müssen, nicht nur, um diskriminierungsfrei zu sein – Stichwort Alter, Geschlecht et cetera –, zu thematisieren für versorgungsrelevante Aspekte, sondern um auch aktiv zu wirken gesellschaftlich, nicht nur individualmedizinisch.

Scherer: Und um aus der Leitlinienentwicklung, aus der Medizin heraus ein Zeichen zu setzen und einzuwirken auf die Politik. Und dafür gibt es ja diesen Begriff Advocacy.

Nößler: Das heißt, Leitlinienentwicklung kann man tatsächlich auch als Politikberatung verstehen.

Scherer: Zumindest haben wir jetzt in den letzten Monaten und in den letzten drei Jahren gemerkt, wie Medizin politisiert werden kann. Und es gibt politische Aspekte von Medizin und medizinischer Versorgung. Und dass man zum Beispiel für Patientinnen und Patienten mit Multimorbidität ausreichend Zeit braucht, ist ein hochpolitischer Aspekt.

Nößler: Natürlich. Am Ende ist man nämlich wirklich auch an der Frage, welche Ressourcen stellt man bereit, damit die Zeit ermöglicht werden kann.

Scherer: Aber auch, wenn man über Adipositas spricht und über kardiovaskuläre Risikofaktoren, dann kommt man über geografische und soziodemografische Unterschiede überhaupt nicht umhin. Und dann stellt man relativ schnell fest, die sozialen Determinanten von Gesundheit, die lassen sich eben nicht durch das Gesundheitssystem selbst beheben, sondern da ist die Politik gefordert, und zwar ganz stark.

Nößler: Gesundheit heißt soziales Tun. Da sind wir wieder beim alten Virchow. Herr Scherer, Sie haben eine Arbeit, die wir – ich muss Sie eigentlich gar nicht mehr fragen – in Shownotes verlinken. Sie haben eine Arbeit mitgebracht, die wurde diskutiert in Toronto. Das ist ein Report, ein Bericht, das ist der Marmot-Review von dem gleichnamigen Sir Michael Marmot aus England, der dort die gesundheitliche Ungleichheit untersucht. Und ein Aspekt in seinem Befund ist eben, dass die Lebenserwartung zum einen sich an so einem sozialen Gradienten entlanghangelt, so nennt er das, und dass Menschen, die in Regionen mit höherer relativer Armut leben – könnte man auch soziale Deprivation nennen –, einen sehr viel höheren Anteil ihrer Lebenszeit mit Krankheit verbringen als jene, die in besser situierte Regionen leben. Kurz könnte man sagen: Geld „macht“ gesund. Und das ist jetzt tatsächlich eine alte Weisheit, muss man sagen. Das Interessante ist aber, dass er feststellt, unter anderem für England, die Lebenserwartung nimmt ab und diese Equity wird wieder zu einem Problem. Wurde da diskutiert, woran das liegen kann, diese Entwicklung?

Scherer: Ja, wurde es. Vielleicht noch mal einen Schritt zurück. Wir wussten natürlich schon vor Sir Michael Marmot, dass soziale Ungleichheit ein Problem ist für die Gesundheitsversorgung und für die Prävalenz von chronischen Erkrankungen. Also gerade in der Gruppe der Ärmeren sind Erkrankungen wie KHK, Schlaganfall, Hypertonie, Diabetes, COPD, Lebererkrankungen, Depressionen sehr viel häufiger. Und wir wissen, dass in sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen eben nicht nur Herz-Kreislauf-Erkrankungen, sondern auch Atemwegserkrankungen, Stoffwechselstörungen häufiger vorkommen und dass die Lebenserwartung herabgesetzt ist. Das wissen wir schon durch den DHP-Forschungsverbund 1998, durch das statistische Bundesamt. Es gibt Analysen mit Daten des Bundes-Gesundheitssurveys und des telefonischen Gesundheitssurveys, die beide vom RKI durchgeführt wurden. Und es gibt die GEDA-Studie. Das sind alles bekannte Dinge, auch für Deutschland. Das Interessante ist, dass die Allokation von viel Geld im Gesundheitssystem nicht unbedingt die Lebenserwartungen bei den Ärmeren verbessert. Gerade in Ländern, wo sehr viel Geld in das Gesundheitssystem gesteckt wird – nehmen wir mal die USA als Beispiel –, ist es keine gemähte Wiese, dass davon dann auch die Ärmeren profitieren. Und was Sir Michael Marmot in seiner (Key Lecture? #00:14:32-3#) sehr eindrucksvoll dargelegt hat, das ist, dass, zumindest in England während der Coronapandemie vier Jahre an Lebenserwartung verlorengegangen sind. Das heißt, die Lebenserwartung, die in den letzten Jahren doch zulegen konnte, hat da wieder nachgelassen. Immer im Hinblick auf ein Baby, das heute geboren wird. Und woran liegt es? Der soziale Gradient hat sich verstärkt, die sozialen Unterschiede haben sich verstärkt, die Armut ist schlimmer geworden. Und das hat natürlich auch Implikationen für die demografisch akzentuierte Lebenserwartung – klang jetzt ein bisschen gestelzt. Das hat natürlich Implikationen dafür, wo jemand lebt und wie an unterschiedlichsten Wohnorten die Lebenserwartung dann auch schwankt. Jemand, der gut situiert ist, bei dem ist es relativ egal wo er lebt, im Hinblick auf die Lebenserwartung. Aber gerade bei den Ärmeren hängt es sehr stark davon ab, wo jemand lebt. Und da kann es sein, dass man mit dem Fahrrad auf wenigen Kilometern in einer Großstadt ein Lebenserwartungsunterschied von 30 Jahren hinlegt, auf einer Strecke von 5 Kilometern, je nach Wohnort. Also es gibt eine extreme Schwankung an Lebenserwartung zwischen den einzelnen Ländern, aber auch innerhalb von Ländern. Die Lebenserwartung in Swasiland liegt vielleicht bei 49 Jahren im Vergleich zu 83 Jahren in Japan. Und auch innerhalb der Länder sind oft die Morbiditätsgradienten sehr unterschiedlich. Die Inzidenz von Tuberkulose ist bei den nordkanadischen Ureinwohnern 60 Mal höher als im Rest Kanadas zum Beispiel, mit einer Rate von 304 zu 100.000 im Vergleich von 4,6 pro 100.000 im übrigen Kanada.

Nößler: Ich will noch einmal auf diesen einen Aspekt zurückkommen, den Sie gerade zitiert hatten. Wenn ich das richtig zusammenfasse: Wenn ich jetzt einen Martin Scherer – nur mal pars pro toto – nach Hamburg-Harburg packe, dann hat das auf Martin Scherer weniger Auswirkung, als wenn ich Menschen aus Hamburg-Harburg jetzt nach Blankenese tue.

Scherer: Es ist tatsächlich so, dass es bei jemandem, der nicht sozial benachteiligt ist, relativ egal ist, wo er wohnt, im Hinblick auf die Lebenserwartung. Bei jemandem, der aber schon sozial benachteiligt ist, macht der Wohnort noch mal sehr große Unterschiede, gar nicht unbedingt kausal, aber man findet dann eben je nach Region bei den sozial Benachteiligten noch mal große Schwankungen hinsichtlich der Lebenserwartungen.

Nößler: Das wäre nämlich die Frage. Ich nehme jetzt mal an, ich wäre jetzt Städteplaner beispielsweise, oder wie auch immer verantwortlich in der Politik, um wieder auf die Advocacy zurückzukommen, würde ich mir natürlich die Frage stellen: Wenn es da direkte Kausalitäten gibt, vielleicht auch reverse Kausalitäten, inwieweit kann ich da eingreifen? Also Gesundheitspolitik nicht nur als Sozialpolitik zu verstehen, sondern auch revers, dass ich in Gesundheitspolitik mit anderen Maßnahmen hineinarbeiten kann, primärpräventiv, verhältnispräventiv beispielsweise. Gibt es da Befunde, dass man jenseits von gesundheitlichen Leistungen da reingehen kann und positiv etwas verändert? Also noch mal dieses blöde Beispiel, was ich jetzt gerade brachte, ich übersiedle die Leute alle nach Blankenese, das wird ja so einfach nicht sein.

Scherer: Es bringt, glaube ich, nichts, jetzt um den heißen Brei herumzureden. Man muss es so sagen wie es ist. Armut hängt mit Krankheit zusammen. Und die beste Gesundheitsprävention ist Armutsbekämpfung. Da gibt es zum einen die klassischen Risikofaktoren wie Alkohol, Tabakkonsum, aber es spielen auch andere Indikatoren eine Rolle. Zum Beispiel die schlechten Wohnbedingungen, die Lärmbelastung, eine stärkere psychische Arbeitsbelastung, also eine stärkere psychische Belastung beziehungsweise eine stärkere Arbeitsbelastung, die oft bei Geringverdienern auftreten. Und das ist natürlich gerade jetzt in unseren Zeiten, wo wir in einen schwierigen Herbst und Winter gucken, schwierig aufgrund der Energielage, der Inflation, der Kostensteigerung, dass viele nicht wissen, wie sie über die Runden kommen, schon ein besorgniserregender Befund. Das ist tatsächlich auch etwas, was für die Gesundheit eine erhebliche Grundvoraussetzung darstellt. Wenn wir die sozialen Determinanten nicht in den Griff bekommen, dann können wir natürlich noch so viele DMPs machen, Disease-Management-Programme, die Ärztinnen und Ärzte in den Praxen können sich noch so viel versuchen, mit sozialen Problemen zu befassen, was ja gut ist und was wichtig ist. Gesundheitskiosks, Sozialraummanagement, all das. Aber man muss natürlich auch an die sozialen Determinanten von Gesundheit dran. Und das ist Vermeidung und Bekämpfung von sozialer Ungleichheit.

Nößler: Da kann man doch schon tatsächlich sagen, Sie haben das jetzt sehr drastisch formuliert, Reichtum macht gesund, Armut krank.

Scherer: Aber genau das ist die Richtung, in der die Marmot‘schen Empfehlungen gehen. Also er hat ja 2010 schon sechs Empfehlungen formuliert. Da sind jetzt noch zwei dazugekommen. Und eine der wesentlichen Empfehlung ist die Bekämpfung von Kinderarmut. Es ist beschämend, wie viel Kinder in Armut leben, auch in Mitteleuropa. Und das ist einer der ganz wesentlichen Kernelemente, an die Kinderarmut ranzugehen, an die Chancengleichheit dann im späteren Leben ranzugehen. Daran zu arbeiten, dass gleiche Bildungschancen bestehen. Das sind genau die Empfehlungen, die Marmot gegeben hat. Also, das hat er schon 2010 gesagt, dass es zuallererst darauf ankommt, jedem Kind den bestmöglichen Start im Leben zu geben und dass man allen Kindern, jungen Leuten und Erwachsenen dann nach Möglichkeit auch beste Rahmenbedingungen für Bildung und Ausbildung gibt, faire Arbeit, gute Arbeit für alle, ein guter Lebensstandard und bestmögliche Lebensqualität für alle und möglichst gesunde Lebensumstände. Das klingt jetzt – sehen Sie es mir nach – wie aus einem Wahlprogramm.

Nößler: Von der Linkspartei.

Scherer: Das könnte aber auch ein Wahlprogramm der Grünen oder der SPD sein. Aber im Grunde genommen sind das Aspekte, die die soziale Gesundheit beziehungsweise die sozialen Determinanten von Krankheit adressieren. Und man muss ganz klar sagen, so ein Krieg wie jetzt in der Ukraine, mit all seinen Folgen, auch mit seinen wirtschaftlichen Folgen für unser hiesiges Leben, hat unmittelbare Folgen für die soziale Gesundheit beziehungswiese die sozialen Rahmenbedingungen für Gesundheit.

Nößler: Und im Zweifel jetzt eben auch europaweit. Und weil Sie es ansprachen, wir reden ja allein in Deutschland, in wirklich einem der wohlhabendsten Länder auf der Welt, von 2,5 bis knapp 3 Millionen Kinder und Jugendliche, die in relativer Armut leben.

Scherer: Was ein beschämender Befund ist. Und das in einem der reichsten Länder der Welt. Und wie gesagt, die sozialen Determinanten von Krankheit und die soziale Ungleichheit, die findet sich in Ländern quer über den Globus, egal wie viel Geld sie in das Gesundheitssystem stecken. Und das ist, glaube ich, eine ganz wichtige Erkenntnis, die man von Marmot lernen kann, aber auch von vielen anderen, die das schon vorher gesagt haben, dass wie gesund ein Land ist, nicht alleine daran liegt, wie viel Geld man in das Gesundheitswesen steckt.

Nößler: Das ist spannend. Das heißt, die ganz entscheidende Stellschraube für mehr Gesundheit ist Armutsbekämpfung. Das ist die Aussage.

Scherer: Das ist eine der Kernaussagen.

Nößler: Was hat das denn für Implikation, so eine Betrachtung, auch so eine Diskussion, auch diese Befunde, die es da gibt, auf Leitlinienentwickler, ganz konkret? Was nehme Sie da mit für Ihre künftigen Leitlinien?

Scherer: Natürlich haben Leitlinien auch eine Funktion bei der gesundheitlichen Chancengleichheit. Und die gesundheitliche Chancengleichheit ist relevant für die klinische, aber auch für die öffentliche Gesundheitsversorgung. Und dabei spielen natürlich unterschiedliche Merkmale eine Rolle. Also gleicher Zugang für alle, egal welcher ethnischen Zugehörigkeit, egal welchen Geschlechts, egal welcher Religion. Und da gibt es natürlich leider Versorgungsunterschiede. Wir wissen, dass es geschlechterbedingte Unterschiede in der Gesundheitsversorgung gibt. Das sind dann Befunde aus Versorgungsforschungsstudien, die Eingang finden in die Leitlinien. Mit anderen Worten: Die Leitlinien sind ja keine Enzyklopädie des Wissens, die freischwebend über allem thront. Sondern Leitlinien sollen ja verankert sein im Versorgungsproblem. Das heißt, wenn es soziale Ungleichheiten gibt oder Ungleichheiten der Versorgung, dann haben Leitlinien genau die Funktion, dafür auch Empfehlungen zu geben. Und deshalb ist es wichtig, dass diese normative Komponente mitschwingt. Im Grunde genommen sollen Leitlinien auch zur Gesundheitsförderung beitragen. Sie sollen die Gesundheit im Endeffekt besser machen, über den Multiplikator, die Multiplikatorin, Ärztin oder Arzt. Und es soll das ärztliche Gespräch informiert werden, damit dann sich die Gesundheitsversorgung zum Guten wendet beziehungsweise die Qualität der Versorgung verbessert wird. Was ist eine gute Gesundheitsversorgung? Dazu sagt die WHO, dass es sich dabei um den Genuss eines höchstmöglichen Gesundheitsstandards eines jeden Menschen handelt. Ohne Unterschied von Rasse, Religion, politischer Überzeugung, wirtschaftlicher oder sozialer Lage. Das ist das, was die WHO sagt. Und dazu können die Leitlinien beitragen, die gesundheitliche Chancengleichheit weiter voranzutreiben. Und aus diesem Grund kam das Thema Equity in Toronto in der Leitlinienentwicklung ganz oben mit auf die Agenda. Aber natürlich immer mit einem Auge auf die Politik. Denn die Leitlinien können noch so gut sein, wenn die Politik es nicht schafft, die sozialen Rahmenbedingungen für Chancengleichheit herzustellen.

Nößler: Das heißt an der Stelle, Leitlinien können auch klare Aussagen treffen. Nicht Richtung Anwender, sondern Richtung Stakeholder – war eben so ein Begriff –, Richtung Governance, Richtung Legislative: Bitte, wir brauchen aus Leitliniensicht, wenn wir ein gesundheitliches Ziel erreichen wollen, auch folgende Rahmenbedingungen. Da haben wir wieder die Advocacy, nicht wahr?

Scherer: So ist es. Und deshalb müssten da im Grunde genommen alle medizinischen Fachgesellschaften sich zusammentun und stärker in die Richtung arbeiten und stärker aus dieser Blase der territorialen Diskussion innerhalb der Medizin heraustreten und nach außen gehen, auch in Richtung Politik und zu sagen: Liebe Leute, wir brauchen eine Sozialpolitik, die im weitesten Sinne Gesundheitspolitik ist.

Nößler: Weil Armutsvermeidung letztlich Gesundheitsförderung ist. Ich will zu diesem Thema noch bei einer Sache einhaken, die Sie selbst thematisiert hatten, das waren die Gesundheitskioske, die wir aus diversen Prototypen kennen, unter anderem eben auch in Hamburg Billstedt-Horn, das ist so ein Vorzeigeprojekt. Das sind jetzt keine Versorgungseinrichtungen, wie man manchmal denkt, das sind ja vor allem Türöffner, Beratungseinrichtungen, wo man vor allem Menschen ohne Obdach beispielsweise, Menschen mit wenig Geld in sozialbenachteiligten Vierteln über Beratung erst einmal den Zugang zur Gesundheitsversorgung ermöglichen will. Und die sollen nun eigentlich in die Fläche kommen. Jetzt haben Sie schon gesagt, wenn ich das richtig zusammenfasse, damit ist die Ursache des Problems nicht geheilt. Gesundheitskiosk sorgt nicht dafür, dass ich das Armutsproblem löse. Aber brauchen werden wir es doch trotzdem, oder?

Scherer: Das eine schließt das andere ja nicht aus. Also natürlich wird man auch in Zukunft Lösungsansätze brauchen, die eine wohnortnahe Versorgung sicherstellen. Und die Idee von einem Gesundheitskiosk ist ja jetzt nicht die hausärztliche Praxis zu ersetzen. Im Gegenteil, sie soll sie eher ergänzen. Soll sozusagen wie eine ausgelagerte Filiale einer hausärztlichen Praxis sein, zum Beispiel in einem Einkaufszentrum, wo die Leute eben dran vorbeigehen, wenn sie ihre täglichen Gänge machen, oder einfach auch eine niederschwellige Beratung anzubieten bei unterschiedlichen Themen. Da kann es um psychische Themen gehen, um soziale Themen, um das Management chronischer Erkrankungen. Aber das Entscheidende – und das ist eben auch ein Missverständnis –, es soll die hausärztliche Praxis nicht ersetzen, sondern es soll mit ihr in enger Verbindung stehen, es soll sie entlasten. Und da müssen natürlich die Niedergelassenen mit ins Boot und auch die lokalen Ärztenetze müssen da mit ins Boot. Und dann funktioniert es auch gut.

Nößler: Das eine tun, ohne das andere zu lassen, haben Sie gesagt. Das kann man ja auch an der Stelle einfach mal so mitnehmen. Wir haben noch ein zweites Thema, das Sie aus Toronto mitgebracht haben, nach der Equity ging es um Rapid-Guidelines. Wir wissen spätestens seit der Coronazeit – vorher ja auch schon – ist alles irgendwie eine Living-Guideline, muss alles ganz schnell gehen. Wir kennen die ganze STIKO-Diskussion oder vielmehr die Über-STIKO-Diskussion. Ganz persönlich mal, Martin Scherer, was war denn Ihre Take-Home-Message zum Thema Rapid-Guidelines vom GIN? Was haben Sie denn da mitgenommen?

Scherer: Wenn man schneller sein will, muss man Tag und Nacht arbeiten.

Nößler: Erhellend.

Scherer: Das war so die Quintessenz. Natürlich waren eigentlich alle Leitliniengruppen der Welt mit Covid befasst, wen wundert es auch. Jeder hat vor sich hingearbeitet. Ich habe es eingangs schon gesagt, da braucht es eine bessere Vernetzung. Aber wenn man schnell sein will, dann muss man einfach noch mehr und noch intensiver arbeiten. Natürlich gab es dann auch Versuche, das ein bisschen methodisch zu unterlegen. Manche haben gesagt, okay, wir müssen die Themen auswählen, bei denen wir eine Rapid, eine schnelle Leitlinie machen können, das kann man nicht bei jedem Thema machen. Das können solche Infektionserkrankungen sein, also man muss das Thema erst mal gut aussuchen. Dann muss es natürlich verfügbare Daten geben. Und ich brauche eine effiziente, methodisch gut versierte Gruppe, die das dann auch machen kann.

Nößler: Heißt das dann, Sie sagten schon, es gibt auch kulturell krasse Unterschiede in der Leitlinienarbeit. Da gibt es Nationen, wie beispielsweise das USPSTF hatten Sie genannt, also die USA oder auch in England, wo das sehr stark professionalisiert ist durch staatliche Gremien. Und in Deutschland ist Leitlinienarbeit nahezu ausschließlich Ehrenamt. Das machen Sie neben all Ihren Obligationen nebenher. Könnte das denn auch bedeuteten, für Deutschland zu überlegen, ob man die Leitlinienarbeit nicht ein Stück weit weiter professionalisieren müsste?

Scherer: Zumindest für den Krisenfall wäre es gut, da eine Gruppe zu haben, die sich nur darauf konzentrieren kann, die auch entsprechend gefördert ist. Und das ist, glaube ich, das, was man auch aus anderen Ländern lernen kann, dass man so was Wichtiges, wie eine Leitlinienerstellung eben nicht ins Ehrenamt verschieben kann, sondern dass das wirklich eine hoheitliche Aufgabe der Gesundheitsversorgung ist.

Nößler: Im Koalitionsvertrag der Ampelregierung steht eine Maßnahme drin, dass man eine Art Public Health Institut gründen soll. Wäre so etwas denkbar – das ist ja einer Körperschaft, das heißt, sie unterliegt auch der Verwaltungsgerichtsbarkeit –, dass man in so einem Institut dann Strukturen schafft, die die entsprechende hauptamtliche Power bringt, wo man beispielsweise die Fachleute einfach reinholt in so einer Krisensituation?

Scherer: Zumindest wäre es schon mal sinnvoll, die Evidenzsynthese zu zentralisieren, sodass nicht jede einzelne Fachgesellschaft, die sich jetzt mit Covid oder Long- und Postcovid befasst, für sich selber immer die Evidenzsynthesen macht, sondern dass man die einmal zentralisiert. Und dass die einzelnen Fachgesellschaften für sich und für ihren eigenen Versorgungsbereich dann interpretieren und in Empfehlungen umwandeln können. Denn das darf es natürlich auch nicht im Umkehrschluss geben, dass man sagt, man kann quer über alle Versorgungsbereiche jetzt an eine Leitlinie machen. Da braucht schon jedes Setting seine eigenen fachgesellschaftlichen Empfehlungen.

Nößler: Es wäre im Prinzip denkbar, dass man diese Kernarbeit der Leitlinienarbeit, nämlich die Quellenrecherche, das Zusammentragen der Evidenz, in hauptamtliche Hände beispielsweise legen könnte.

Scherer: Zum Beispiel, ja.

Nößler: Es gibt ja auch Diskussionen, bei der STIKO hatten wir es ja, dass man sagt, da braucht diese Mini-Mini-Geschäftsleute eigentlich mehr Leute, die genau diese Arbeit übernehmen. Herr Scherer, gab es in Toronto bei der GIN-Konferenz noch andere Ideen, vielleicht auch Best Practices, wie man das Thema Leitlinienarbeit „beschleunigen“ kann?

Scherer: Es gibt eine AGDWG, eine Accelerated Developed Guidelines Working Group, die sich eine Methodik überlegt hat. Aber diese Methodik geht in die Richtung, dass man sehr viel schneller arbeitet, dass man versucht, die AGREE-II-Kriterien trotzdem alle auch abzubilden in seiner Leitlinienarbeit und das ganze Verfahren beschleunigt, ohne an Qualität zu verlieren. So kann man es zusammenfassen.

Nößler: Waren sich da alle Teilnehmer vor Ort, oder diejenigen, die da mitdiskutiert haben, einig, dass man das ohne Qualitätsabstriche hinkriegt?

Scherer: Natürlich gab es da schon Diskussionen, weil auch Personen gefragt haben, wie soll das gehen, dass Dinge, die eigentlich zu so einer Leitlinienmethodik dazugehören, dass ich da einzelne Elemente plötzlich weglasse, nur um schneller zu sein. Das waren natürlich berechtigte Nachfragen. Und man könnte jetzt nicht sagen, dass es da ein Konsens gibt.

Nößler: Heißt dann aber – das ist jetzt so die Take-Home-Message, die ich mitnehmen aus Ihrem Bericht von der Konferenz –, wenn ich die Leitlinienarbeit wirklich beschleunigen will, was ja, Stichwort Politisierung der Medizin, immer auch wieder gefordert wird, dann muss ich dafür einfach Menschen bereitstellen, Ressourcen.

Scherer: Zumindest Mittel bereitstellen.

Nößler: Und das mit dem Inno-Fonds, das ist ja auch nur, mit Verlaub, eine Krücke, das ist jetzt einmal, dass Leitlinienarbeit da gefördert wird, dann läuft es ja aus.

Scherer: Aber das ist auf jeden Fall ein guter Ansatz. Wir sind sehr dankbar und sehr froh, dass wir diese Förderung haben. Aber in so eine Richtung muss es gehen, dass wir sagen, die Evidenzbasierung unserer Gesundheitsversorgung darf eigentlich nicht auf ehrenamtlichen Schultern liegen.

Nößler: Also machen wir es noch mal plastisch. Für alle, die uns zuhören, die so mit Leitlinienarbeit gar nichts zu tun hatten. Ich mache es mal hypothetisch und Sie sagen, das ist alles Bullshit, was Herr Nößler sagt. Herr Scherer, Sie machen mit Kollegen eine Leitlinie zum X und nehmen wir mal die Multimorbidität. Und da finden sich dann Autorinnen und Autoren zusammen. Dann guckt man, wenn man zum Beispiel Institutsdirektor ist, habe ich in meinem Team Leute, die an dieser Leitlinie mitarbeiten möchten und die stellt man dann zeitweise ab. In der Zeit können sie keine anderen Projekte machen. Und wenn man jetzt aber sagt, die Leitlinienautorengruppe – in dem Fall vielleicht Institutsdirektor Y – wird mit einer Summe X gefördert, dann kann man dafür zum Beispiel eine Postdoc-Stelle bezahlen, die nichts anderes macht. Kann man sich das so vorstellen?

Scherer: So ungefähr kann man sich das vorstellen. Weil die Leitlinienentwicklerinnen und -entwickler, die sind sehr oft in der Gesundheitsversorgung tätig. Da sind natürlich Methodiker dabei, aber häufig sind sie ärztlich tätig, haben eine Familie, haben ein Privatleben und müssen eben schauen, dass sie sich aus entweder der klinischen Tätigkeit oder aus der Freizeit die Stunden abknapsen, die sie für die Leitlinienentwicklung brauchen. Und da wäre es natürlich gut, feste Stellen dafür zu haben von Personen, die sich komplett darauf konzentrieren können – zumindest für den methodischen Teil.

Nößler: Dann war auch das quasi heute, Herr Scherer, wirklich eine reine Advocacy-Folge, also quasi ein Politikberatungs-Podcast. Wo tatsächlich auch mal so ein paar Forderungen aufgestellt wurden, ein paar wichtige Signale gegeben wurden von Ihrer Seite. Ist jetzt irgendwas offengeblieben?

Scherer: Das Social Prescribing ist offengeblieben. Das eine ist das Advocacy, dass aus der Medizin heraus Signale kommen zur Verbesserung der gesundheitlichen Chancengleichheit. Da brauchen wir stärkere Signale. Aber das andere ist das Social Prescribing. Und jetzt frage ich Sie: Können Sie sich etwas drunter vorstellen?

Nößler: Im weitesten Sinne, wenn ich jetzt mal an das normale Prescribing denke, dann kriege ich da einen blauen, wahlweise einen rosa Zettel in die Hand gedrückt. Da steht eine Substanz drauf oder vielleicht ein Heilmittel. Und Social Prescribing wäre, dass eine soziale Intervention verordnet wird. Wäre jetzt mal so meine Vermutung.

Scherer: Genau. Also Social Prescribing wird zum Beispiel von Hausärztinnen und Hausärzten, aber auch von Sozialarbeitenden, von Gemeinde, Kranken- und Gesundheitspfleger und -pflegerinnen dann verordnet, wenn sie einen verzögerten oder ausbleibenden Heilungserfolg bei Patienten beobachten, die einen Bedarf hinsichtlich nichtmedizinischer Bedürfnisse haben.

Nößler: Ich versuche mal ein Beispiel zu machen. Ich nehme an, eine junge Frau ist Mutter, wird alleinerziehend sein – Haushaltshilfe. Wäre das ein Social Prescribing?

Scherer: Kann man darunter subsumieren. Aber denken Sie an die zurückliegenden Pandemiephasen, sozial isolierte Patientinnen und Patienten, Menschen, die mit nichtmedizinischen, aber für die körperliche und psychische Gesundheit, wirklich bedeutsamen Problemen zu kämpfen haben, solche Patientinnen und Patienten haben in der Regel nur wenige oder keine sozialen Kontakte. Sie leben isoliert, fühlen sich oft einsam. Und da kommt dann die Frage auf, wie man das soziale Netzwerk verbessern kann. Wie können sie Anschluss finden, wie können sie Beziehungen aufbauen. Und da wäre das Social Prescribing eine Möglichkeit. Also das ist das, was man heute sozusagen schon machen kann. Das mit der Advocacy, das muss man auch tun, das dauert noch ein bisschen länger.

Nößler: Social Prescribing ist ja in Deutschland nicht wirklich institutionalisiert als Instrument. Also ich glaube nicht, dass es vom gemeinsamen Bundesausschuss eine Social Prescribing-Richtlinie gibt. Das kommt dann auf die einzelnen Handelnden – ich nehme jetzt mal diesen bösen Begriff der Leistungserbringer – an, die sich trauen, das auch mal anzuwenden, oder?

Scherer: Das liegt an jedem selbst. Da braucht man etwas Zeit für, natürlich. Und da sind wir auch wieder bei den Gesundheitskioske, die an dieser Stelle sehr gut unterstützen können.

Nößler: Da könnte man in der Tat auch größer über Struktur nachdenken. Ich habe mal gehört, in Berlin gibt es ein Gesundheitsstadtrat, der will tatsächlich, dass an jeder kinderärztlichen Praxis ein Sozialarbeiter vorhanden ist. Das würde ja auch in so eine Richtung gehen.

Scherer: Das wäre ein Ansatz, der in so eine Richtung geht. Und wir sind ja hier immer noch im Evidenz-Update. Es gibt etliche Studien, die zeigen, ob das jetzt Teilnehmerbefragungen sind oder auch Reviews zu Social Prescribing, zu unterschiedlichen Social Prescribing-Maßnahmen und -Programmen, dass es Effekte gibt, dass es erwünschte Effekte gibt hinsichtlich nichtmedizinischer Bedürfnisse, dass es Effekte gibt hinsichtlich sozialer Teilhabe, der Verbesserung der psychologischen und körperlichen Situation. Also Social Prescribing. Vielleicht finden wir noch ein deutsches Wort dafür.

Nößler: Soziales Verordnen – klingt ein bisschen doof. Das wäre jetzt so ein komischer Begriff. Ich zitiere, lieber Martin Scherer, an dieser Stelle Rudolf Virchow: „Die Medizin ist eine soziale Wissenschaft und die Politik ist nichts weiter als Medizin im Großen“. Das kann man doch relativ gut als Klammer eigentlich durch diese Episode heute durchziehen, oder?

Scherer: Ein Zitat, das auf jeden Fall passt zu dieser Episode.

Nößler: Ein Zitat, das auf jeden Fall passt. Ein Social-Prescribing-Review, der auf die Effekte zeigt. Werden wir natürlich auch in den Shownotes verlinken. Herr Scherer, an dieser Stelle schon einmal vielen Dank, natürlich auch an die Hörerinnen und Hörer, dass Sie uns tatsächlich wieder doch jetzt einige Minuten zuhören konnten zu dieser top aktuellen Geschichte – live, hätte ich fast gesagt, aus Toronto, aber jedenfalls kurz danach. Herr Scherer, wollen wir es wieder wagen mit einem Cliffhanger?

Scherer: Wir haben heute etwas allgemeiner über Leitlinien gesprochen und wir könnten ja mal wieder in eine Leitlinie eintauchen und mal wieder in die tägliche Praxis schauen.

Nößler: In die tägliche Praxis schauen – in eine Leitlinie hineinschauen, vielleicht etwas klinischer werden. Und ich fürchtete schon, Sie wollen live in einem Podcast mal eine Leitlinie entwickeln. Das kommt vielleicht ein andermal. Herr Scherer, vielen Dank. Bleiben Sie gesund und fröhlich.

Scherer: Danke, Sie auch. Bis zum nächsten Mal.

Nößler: Bis zum nächsten Mal. Tschüss.

Scherer: Tschüss.

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