Hintergrund
Berliner Ärzte fürchten die Regress-Keule
Die Arzneimittel-Richtgrößen für niedergelassene Ärzte müssen weg. Immer lauter schallt diese Forderung in die Politik. Doch erhört wird sie bislang nicht. Nun trommeln auch Patientenverbände für die Ärzte.
Veröffentlicht:Sie warnen vor einer Unterversorgung schwer kranker Patienten mit Medikamenten. Sie beklagen die Einschränkung der ärztlichen Therapiefreiheit. Sie fürchten existenzvernichtende Regresse.
Ihre Forderung ist die ersatzlose Streichung der Arzneimittel-Richtgrößen. Niedergelassene Ärzte in Berlin nehmen die jüngste Änderung ihrer Richtgrößen zum Anlass für öffentliche Proteste gegen die Systematik der Richtgrößenprüfung.
Spezialisierung und Innovation unberücksichtigt
"Die historische Richtgrößenprüfung gehört auf den Müllhaufen der Geschichte", sagt Burkhard Bratzke, der im Vorstand der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Berlin für Arzneimittel zuständig ist. Aus seiner Sicht bildet sie die Versorgungsrealität längst nicht mehr ab.
Das habe zwar auch für die alten Richtgrößen in Berlin gegolten, doch die hätten wenigstens Planungssicherheit gegeben, kritisiert er den Beschluss des Schiedsamtes, der seit Juli Richtgrößen festlegt, die für die meisten Fachgruppen deutlich niedriger sind als bisher.
Bratzke geht es ums Prinzip. Die Zuordnung der Richtgrößen zu Fachgruppen verkennt seiner Meinung nach, dass Ärzte innerhalb der Fachgruppen inzwischen äußerst unterschiedliche Spezialisierungen haben.
Beispiel Gastroenterologie: Manche Ärzte sind aufs Endoskopieren spezialisiert und verordnen kaum Medikamente. Andere versorgen vor allem Patienten mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen (CED).
Leitlinien versus Richtgrößen
Zur Behandlung von Patienten mit fortgeschrittenen CED gibt es seit kurzem Biologicals. Doch diese neuen Medikamente sind teuer. Auf 3000 bis 5000 Euro pro Quartal beziffert der Gastroenterologe Dr. Rolf Drossel die Therapiekosten.
Die neue, seit Juli geltende Richtgröße für Gastroenterologen in Berlin - rund 67 statt 116 Euro - ist schon mit der herkömmlichen Therapie eines chronisch darmkranken Patienten überschritten. Die kostet laut Drossel etwa 120 Euro.
"Wenn wir Gastroenterologen weiterhin leitliniengerecht, wissenschaftlich begründet und wirtschaftlich verordnen wollen, müssten wir das Budget um 40.000 bis 50.000 Euro pro Quartal überschreiten. Ein Regress ist somit unumgänglich", sagt der Arzt.
Zumindest wird er auffällig und riskiert ein Prüfverfahren. Ob Drossel nachher vor den Prüfgremien glaubhaft versichern kann, dass er ein Spezialversorger unter den Gastroenterologen ist und damit Praxisbesonderheiten beanspruchen kann, muss sich zeigen.
Unruhe auch bei Patientenorganisationen
Auch für die vorab festgelegten Praxisbesonderheiten gelten laut KV neue Regeln. Bisher wurden die Verordnungskosten vollständig aus der Richtgröße herausgerechnet. Jetzt sollen sie nur noch in der Höhe anerkannt werden, in der sie den Fachgruppendurchschnitt überschreiten.
Der Fachgruppendurchschnitt ist zum Zeitpunkt der Verordnung aber nicht bekannt. "Keiner weiß heute, was später als Praxisbesonderheit anerkannt wird", so Bratzke.
In ihrem Protest finden die Ärzte zunehmend Unterstützung von Patientenverbänden. Besonders die Selbsthilfeorganisationen von Patienten, die auf hochpreisige Dauermedikation angewiesen sind, wie zum Beispiel CED-Kranke, wenden sich an die Berliner Patientenbeauftragte Karin Stötzner. Sie versucht zu beruhigen, genau wie die Krankenkassen.
Die vdek-Landeschefin Gabriela Leyh ist derzeit oft zu Gast bei Berufsverbänden, um die neue Systematik zu erläutern. Ein beliebtes Argument zur Beruhigung: Laut Gesetz sollen nur fünf Prozent der Ärzte einer Fachgruppe in die Richtgrößenprüfung kommen - auch wenn neuerdings 15 bis 25 Prozent auffällig würden, wie die KV Berlin sagt.
KV-Vorstand Bratzke weist darauf hin, dass diese Gesetzesregelung eine Sollbestimmung und mithin nicht bindend ist. "Das kann einen Arzt nicht beruhigen", sagt er.
Regresse beschäftigen auch das Parlament
Ob das Bundesgesundheitsministerium auf die Protestschreiben der Berliner Ärzte reagiert und wie gefordert die Richtgrößenprüfung im Zuge des Versorgungsstrukturgesetzes abschafft, bleibt abzuwarten.
Bratzke jedenfalls würde einer Alternative den Vorzug geben: Eine Prüfung der Indikation nach Tagesdurchschnittstherapiekosten (DDD) wäre aus seiner Sicht wesentlich sachgerechter.
Positionieren muss sich das Bundesgesundheitsministerium eh: seit einigen Tagen liegt eine parlamentarische Anfrage der Bündnisgrünen vor. Sie wollen wissen, in welchem Umfang welche Arztgruppen von Richtgrößenprüfungen und Regressen betroffen sind.
Geschichte der Arzneimittel-Richtgrößen
Arzneimittel-Richtgrößen hat Horst Seehofer als Bundesgesundheitsminister 1992 eingeführt. Sie sollten das Wachstum der Arzneimittelausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung bremsen.
Anfangs orientierten sich die Richtgrößen im Bereich einer Kassenärztlichen Vereinigung am durchschnittlichen Verordnungsvolumen einer Fachgruppe. Seit 2002 sind Richtgrößen festgesetzte Eurobeträge. Überschreitet ein Arzt seine Richtgröße, dann kann er Praxisbesonderheiten geltend machen. Ab einer Überschreitung von 25 Prozent riskiert er einen Regress.
Das Versorgungsstrukturgesetz sieht nun vor, dass zunächst eine Beratung erfolgen und ein Regress erst bei wiederholter Überschreitung ausgesprochen werden soll.