Das Leben in Würde muss erst noch gelernt werden

Kindesmissbrauch, Trennung von den Eltern, Folter - das war in der Colonia Dignidad Alltag. Ein Psychiater will den Opfern helfen, ein normales Leben zu führen.

Angela MisslbeckVon Angela Misslbeck Veröffentlicht:

Für die einen sind sie Täter, für andere Opfer: In Chile leben Menschen aus der totalitären Sekte Colonia Dignidad drei Jahre nach der Verurteilung ihres Anführers Paul Schäfer noch immer als Gemeinschaft auf dem ehemaligen Koloniegelände zusammen. Psychotherapie soll ihnen helfen, die Traumata zu verarbeiten und den Alltag zu gestalten. "Wie willst du beweisen, dass du etwas verändern willst, dass du noch hier lebst, aber etwas Normales schaffen willst?", fragt Anna Schnellenkamp in dem Film "Deutsche Seelen". Die Tochter von Kurt Schnellenkamp, der als Komplize Paul Schäfers 2006 zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde, ist heute zuständig für den Tourismus des Ortes "Villa Baviera", der auf dem ehemaligen Gelände der Colonia Dignidad rund 400 Kilometer südlich der Hauptstadt Santiago liegt.

Singen, Musizieren ja - Reden nein

Nach Meinung des Psychiaters Professor Niels Biedermann ist Anna Schnellenkamp selbst die lebendige Antwort auf ihre Frage. "Sie hat eine fantastische Entwicklung gemacht", sagt Biedermann. Die junge Frau lege Selbstbewusstsein und Eigeninitiative an den Tag. Sie ist Mutter und scheint heute ein ganz normales Familienleben zu führen. Doch ihre Kindheit verlief alles andere als normal. Das verstand sie erst im Lauf der Zeit. "Wir lernten, dass die Eltern für ihre Kinder verantwortlich sein sollten. Das war nicht der Fall", berichtet Anna Schnellenkamp im Film weiter.

Der deutsche Sektenführer Paul Schäfer hatte das Leben der Kinder in der Colonia Dignidad so strukturiert, dass er seine Pädophilie ungehindert ausleben konnte: Jungenschlafsaal, Mädchenschlafsaal. Kaum Kontakt zu Vater und Mutter. Und zum Vergessen eventuell traumatischer Erlebnisse wurden Elektroschocks an den Genitalien, Psychopharmaka, einschließlich Antipsychotika und Elektrokrampftherapie verabreicht. Wer das Regelwerk anzweifelte oder gar dagegen verstieß, musste mit harten Strafen rechnen - Arrest, Geißelungen oder Nahrungsentzug und öffentliche Erniedrigungen waren keine Seltenheit. Die Erwachsenen arbeiteten 16 Stunden am Tag oder länger. Alles Gemeinschaftsleben fand in der großen Gruppe statt: Singen, Musizieren ja - Reden nein.

Als "pervertiertes System, das die Menschen jeder normativer Orientierung beraubte" beschreibt der Psychiater Biedermann die Repression in der Colonia Dignidad aus psychoanalytischer Sicht. Für die Bewohner der so genannten "Kolonie der Würde" war es Normalität. Dass das wirkliche Leben ganz anders aussieht, haben sie erst mühsam lernen müssen. "Sie sind noch immer in einem Lernprozess", sagt Biedermann. Doch der macht Fortschritte, nicht zuletzt dank Biedermanns Arbeit. Heute leben die Menschen in der Villa Baviera in Familien zusammen. Knapp 200 von ihnen bilden die Dorfgemeinschaft. Schlafsäle wurden in Wohnungen umgewandelt. Sie lernen Spanisch, haben Unternehmen gegründet und ein Tourismusbüro eröffnet, um ihr Leben zu finanzieren.

Biedermann leitet ein Projekt zur psychotherapeutischen Betreuung der Bewohner der Villa Baviera, das das deutsche Auswärtige Amt im Jahr 2005 gestartet hat. Die Psychotherapeuten verstehen ihre Arbeit als notwendige Ergänzung zur strafrechtlichen Aufarbeitung der schweren Menschenrechtsverletzungen, die in der Siedlung begangen wurden. Ziel ist es, die Traumata aufzuarbeiten und die Siedlungsgemeinschaft in die Gesellschaft zu integrieren.

Biedermann übernahm die Aufgabe. Er fühlte sich verantwortlich. "Es gab kaum jemand, der das hätte machen können", sagt er. Der 64-Jährige ist als Kind mit seinen Eltern aus Schleswig-Holstein nach Chile gekommen. Bereits im Widerstand gegen den chilenischen Diktator Pinochet war er aktiv. Heute ist er stellvertretender Vorsitzender des Lateinamerikanischen Instituts für seelische Gesundheit und Menschenrechte.

Auch viele seiner Forschungsarbeiten an der Universität von Chile in Santiago widmen sich den Folgen von Menschenrechtsverletzungen. Trotz dieser Erfahrungen stand Biedermann anfangs oft hilflos in der Villa Baviera. Es sei "harte Arbeit gewesen", berichtet er. Jede zweite Woche hat er ein verlängertes Wochenende dort verbracht, zusammen mit einer Psychologin.

Die Gemeinschaft hat die Psychotherapeuten anfangs abgelehnt. Psychoanalytische Einzeltherapie hat versagt, die herkömmliche Form der Gruppentherapie ebenfalls. Also mussten neue Therapieformen entworfen und erprobt werden, um die Bewohner der Villa Baviera zu erreichen. So entstand eine sehr strukturierte Gruppentherapie: In Vorträgen haben sie auch 40-jährigen Eltern erklärt, wie Fortpflanzung und Familienleben "normalerweise" funktionieren. Erst dann konnten die "Patienten" über ihre abweichenden und ambivalenten Erfahrungen sprechen.

Die Gemeinschaft ist der Patient

Heute ist der Psychiater in der Gemeinschaft akzeptiert und willkommen. Im Lauf der Zeit sind persönliche Bindungen entstanden. "Ich habe viele von ihnen gern", sagt Biedermann. Eine der großen Herausforderungen an seine Arbeit ist zugleich eine der Hauptaufgaben seiner Patienten: "Man muss trennen zwischen Person und Handeln. Man kann das Handeln ethisch verurteilen, aber die Person dennoch akzeptieren. Das muss auch die junge Generation lernen", sagt Biedermann. Seine Arbeit macht Fortschritte.

Der Psychiater freut sich über die zwischenmenschliche Entwicklung in der Gruppe, über die Weiterentwicklung einzelner von infantilen zu selbständigen Menschen und über Beispiele erfolgreicher Einzelentwicklungen, wie das von Anna Schnellenkamp, die immer nur im äußeren Einflusskreis der Psychotherapeuten gewesen sei. Eigentlich betrachtet das Team die Gemeinschaft als Ganzes als seinen Patienten: "Unsere Arbeit ist zu Ende, wenn die Gemeinschaft sich autonom bewegen kann", sagt Biedermann.

Filmtipp: Deutsche Seelen

Wie das Leben für die Bewohner des Sektengeländes weitergeht, schildert der Dokumentarfilm "Deutsche Seelen". Die Regisseure Matthias Zuber und Martin Farkas haben die Bewohner der Villa Baviera im Jahr 2006 mehr als zwei Monate in ihrem Alltag begleitet und so Zugang zu ihnen gefunden. Ohne Kommentare lassen sie ihre Protagonisten sprechen. So entsteht eine authentische und bewegende Innenansicht des vielschichtigen Gefühls- und Alltagslebens einiger ehemaliger Sektenmitglieder und der Gemeinschaft insgesamt.

Verdrängung und Versuche der Aufarbeitung, Zweifel an der Gemeinschaft und Angst vor dem Ausgestoßensein, Schuldbekenntnisse und Opferhaltung - der Zuschauer ist mit der ganzen Ambivalenz der Situation konfrontiert. Deutsche Seelen wurde mit dem Prädikat "besonders wertvoll" der Filmbewertungsstelle Wiesbaden ausgezeichnet.

Deutsche Seelen - Leben nach der Colonia Dignidad. Dokumentarfilm, 92 Minuten, demnächst im Fernsehen. www.deutsche-seelen.de

Colonia Dignidad

Im Jahr 1961 gründete der Deutsche Paul Schäfer zusammen mit 300 deutschen Siedlern die so genannte "Kolonie der Würde" auf einem Gelände von 40 000 Hektar in der Mitte Chiles. Die Siedlung wird hermetisch gegen die Außenwelt abgeriegelt. Erst Anfang der 90er Jahre gelingt einem Mitglied die Flucht. Vorwürfe gegen Schäfer werden laut, bleiben aber weitgehend ungehört. Erst nach dem Ende der Pinochet-Diktatur wächst der Druck auf den Sektenführer.

Schäfer flieht 1997 nach Argentinien und taucht unter. 2005 wird er gefasst. Ein Jahr später wird er in Santiago de Chile wegen Folter, illegalem Waffenbesitz und vielfachem Kindesmissbrauch zu mehr als 20 Jahren Haft verurteilt. Die strafrechtliche Aufarbeitung ist bis heute nicht abgeschlossen. Viele Verfahren gegen Schäfer, Komplizen und weitere Mitglieder sind noch anhängig. Zuletzt wurde Schäfer im Mai erneut vor dem Obersten Gerichtshof in Santiago verurteilt, diesmal wegen Körperverletzung durch die Gabe von Psychopharmaka an Kinder.

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