Regierung überfragt

Daten-Blackout um Zwangsbehandlungen

Wenn Menschen zwangseingewiesen und zwangsbehandelt werden, ist das ein tiefer Eingriff in die Selbstbestimmung. Daten, die Hintergründe und die ungleiche regionale Verteilung erhellen, sind rar.

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BERLIN (fst). Die Zahl der Menschen, die nach dem Betreuungsrecht auf richterliche Anordnung in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht werden, steigt von Jahr zu Jahr.

Doch das Datenmaterial der Bundesregierung über Hintergründe dieser Entwicklung ist dünn.

Dies ergibt sich aus der Antwort von Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) auf eine parlamentarische Anfrage der Linksfraktion im Bundestag.

Lückenhafte Daten

Immer mehr Menschen zwangseingewiesen

Zahl der Anordnungen nach Betreuungsrecht
Jahr Deutschland
2004 46.381
2005 45.778
2006 46.557
2007 48.889
2008 52.776
2009 54.131
2010 55.366
2011 57.116
Quelle: BMJ - Tabelle: Ärzte Zeitung

So ist die Zahl der Unterbringungen von Menschen nach dem Betreuungsrecht (Paragraf 1906 BGB) zwischen 2000 und 2011 von 35.105 auf 57.116 gestiegen.

Ähnlich ist die Entwicklung bei öffentlich-rechtlichen Unterbringungen - hier bilden die Unterbringungsgesetze der Länder die Rechtsgrundlage.

Im Jahr 2000 wurden noch 57.057 Menschen auf dieser Rechtsbasis untergebracht, elf Jahre später waren es bereits 78.147.

Frappierend sind die Unterschiede zwischen den Ländern. Beispiel Unterbringung nach dem Betreuungsrecht: Hier wurden in Bayern im Jahr 2011 insgesamt 16.854 Fälle verzeichnet, in Baden-Württemberg 5159.

Selbst wenn berücksichtigt wird, dass im Südwesten rund zwei Millionen Menschen weniger als im Freistaat leben, werden in Bayern anteilig häufiger betreute Menschen in einer Einrichtung untergebracht.

Lückenhaft ist auch die Datenlage dazu, wie viele Menschen jährlich in den Maßregelvollzug eingewiesen werden - also auf Anordnung eines Strafrichters.

Hier liegen bis zum vergangenen Jahr nur Zahlen für das alte Bundesgebiet vor: Im Jahr 2003 waren 5118 Menschen in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht, im Jahr 2011 betraf dies 6620 Menschen.

Keine Daten zu Nutzen oder Schaden

Völlig blank steht die Bundesregierung bei der Frage da, wie viele psychisch erkrankte Menschen ohne ihre Zustimmung medikamentös behandelt oder operiert wurden.

In der Betreuungs-Statistik werde nicht erfasst, aus welchem Grund eine Unterbringung erfolgte und ob in diesem Rahmen eine Behandlung ohne eigene Einwilligung des Betroffenen stattgefunden hat, erläutert Leutheusser-Schnarrenberger.

Ebenfalls keine Zahlen hat die Bundesregierung zum patientenbezogenen Nutzen oder möglichen Schaden als Folge einer Zwangsbehandlung.

Aus Sicht von Dr. Martina Bunge, gesundheitspolitische Sprecherin der Linksfraktion, gehört "der gesamte Bereich der Zwangseinweisungen und Zwangsbehandlungen auf den Prüfstand".

Gemessen an der Einwohnerzahl würden in Bremen zehn Mal mehr Menschen zwangseingewiesen als in Sachsen, zitiert Bunge aus dem Datenmaterial des Ministeriums.

Diese Unterschiede seien nicht durch unterschiedliche Krankheitshäufigkeiten erklärbar und "um so dringlicher erklärungsbedürftig", forderte Bunge.

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