Interview
Gesundheitsökonom Schreyögg: Notfallreform könnte pro Jahr fünf Milliarden Euro einsparen
Überfüllte Ambulanzen, gestresste Ärzte, hohe Kosten: Die Notfallversorgung gehört zügig reformiert, sagt der Hamburger Gesundheitsökonom Jonas Schreyögg. Auf den Gesetzentwurf der Ampel lasse sich aufbauen – mit einer Ausnahme.
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„Die dringlichste Reform“: Gesundheitsökonom Professor Jonas Schreyögg zum Umbau der Notfallversorgung.
© Rolf Schulten
Herr Professor Schreyögg, über eine Notfallreform wird in Deutschland schon lange geredet. Was macht die Reform so dringlich?
Im Kern geht es um eine bessere Patientensteuerung. Wir haben in Deutschland das Problem, dass wir den Menschen ein Stück weit ein unbegrenztes Zugangsversprechen zur Versorgung machen: Jede und jeder kann überall hingehen und Leistungen in Anspruch nehmen. Das ist international gesehen ungewöhnlich.
Aber es hat doch auch Vorteile, oder?
Der Vorteil ist, dass wir einen niedrigschwelligen Zugang bieten. Die Kehrseite ist, dass wir dadurch eine wahnsinnig hohe Ressourceninanspruchnahme auslösen, vor allem das Personal betreffend. Wir haben schlicht nicht genügend Ärztinnen, Ärzte und Pflegekräfte, um den Status quo fortzuschreiben. Nötig sind Reformen zur Reduktion der Inanspruchnahme – gerade in der Notfallversorgung.
Woran machen Sie das fest?
Das Problem zeigt sich vor allem in den sehr hohen Aufnahmeraten der Notaufnahmen der Kliniken. Viele der „Fälle“ sind keine wirklichen Notfälle. Freilich: Die Kette der Fehlanreize fängt früher an.
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Wo genau?
Es beginnt bei den Leitstellen, sofern jemand dort anruft und nicht gleich in die Notaufnahme geht. In der Regel wird von der Leitstelle ein RTW rausgeschickt, statt das gesamte Spektrum an Hilfe auszuschöpfen – etwa durch Einbuchen bei Hausarztpraxen. Der RTW bringt intensiviert Patienten in ein Krankenhaus, weil dann Leistungen des SGB V induziert sind. Das ist ein Grund, weshalb so viele in die Notaufnahmen kommen. Von diesen werden knapp die Hälfte stationär aufgenommen. Das ist international einmalig.
Sie sagten, viele Patienten, die in die Notaufnahmen kämen, gehörten dort nicht hin.
Das ist so – und wir haben dadurch zu viele stationäre Fälle. Positiv gewendet bedeutet das: Es besteht ein erhebliches Potenzial, stationäre Fälle zu reduzieren. Das sehen wir auch in Pilotkrankenhäusern wie in Hamburg oder Kiel, die über ein integriertes Notfallzentrum verfügen – gemeinsam mit einer KV-Notfallpraxis, teils auch mit eigenem Praxissitz. Diese Häuser konnten die Aufnahmeraten deutlich absenken – oft auf 30 Prozent.
Der Wirtschaftsrat der CDU fordert, Notaufnahmen, ärztlichen Bereitschaftsdienst und Rettungsdienst in einem Abwasch zu reformieren. Ist das die Quadratur des Kreises?
Das ist in der Tat alles andere als einfach – auch weil die Rettungsdienste meistens den Landesinnenministerien unterstehen. Dadurch steht der Bund einem komplexen Spektrum an Verhandlungen gegenüber. Das haben wir gesehen, als Jens Spahn Gesundheitsminister war. Der Entwurf damals ist im Grunde daran gescheitert, dass man sich bei den Rettungsdiensten nicht einigen konnte.
Professor Jonas Schreyögg (49)
- Seit 2010 Inhaber des Lehrstuhls für Management im Gesundheitswesen, Hamburg Center for Health Economics, Universität Hamburg.
- Seit 2011 Wissenschaftlicher Direktor des Hamburg Center for Health Economics (HCHE), Universität Hamburg.
- Seit 2014 Mitglied im Sachverständigenrat Gesundheit und Pflege (SVR).
Was ist mit Blick auf den Rettungsdienst zu tun?
Ich bin immer vorsichtig bei der Forderung nach Bundeseinheitlichkeit. Aber es ist wichtig, dass man eine gewisse Angleichung beim Rettungsdienst hinbekommt, schon wegen der großen Bundeslandgrenzen.
Können Sie uns das genauer erklären?
Wenn der Rettungsdienst auf unterschiedlichen Zuständigkeiten fußt, wenn sich das, was Notfallsanitäter machen dürfen und nicht, nach Bundesländern unterscheidet, dann haben wir ein großes Problem.
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Manche sprechen von einem Flickenteppich.
Korrekt. Und so etwas ist guter Versorgung, die nicht von Postleitzahlen abhängt, immer abträglich. Deswegen wäre es wichtig, dass man da vorankommt und zum Beispiel Richtung Paramedics denkt.
Was genau verbirgt sich hinter Paramedics?
Das sind Fachkräfte in einer Art Zwischenstellung Rettungssanitäter und Notarzt. Die Befugnisse der Paramedics reichen weiter als die der Rettungssanitäter. Hier wird oft auf Kanada verwiesen. Das System hat einige Vorteile im Vergleich zum hiesigen „Rendezvous-System“, bei dem der Notarzt zu einem unterschiedlichen Zeitpunkt ankommt und der Notfallsanitäter die Zeit überbrückt.
Letzteres klingt recht komplex?
Ja, das erfordert eine sehr komplexe Koordination und ist bei einem System mit Paramedics anders, weil diese selbstständig tätig werden und eine Behandlung einleiten dürfen. Generell würde ich sagen, dass die Reform der Notfallversorgung am dringlichsten ist unter allen Reformen, weil sie am meisten Entlastung verspricht, in puncto Personal und finanzieller Ressourcen.
Ist das Konsens unter allen Beteiligten?
Ich denke ja. Notfalls ließe sich das Vorhaben in mehreren Stufen umsetzen. Aber lieber starten und versuchen, möglichst weit zu kommen und nachzusteuern, wenn nötig. Wie gesagt: Wir müssen einfach mal in eine neue Ära der Notfallversorgung starten!
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Kommen wir zum Gesetzentwurf für eine Notfallreform unter Karl Lauterbach. Darin war die Verpflichtung vorgesehen, über die 116 117 der KVen flächendeckend 24/7 telemedizinische, aufsuchende Notdienste zur Erstversorgung anzubieten. KBV und KVen konterten: Nicht zu leisten. Sollte Gesundheitsministerin Nina Warken den Passus streichen, sie will ja an den Entwurf Lauterbachs anknüpfen?
Wir wissen tatsächlich, dass die Inanspruchnahme der Notfallpraxen vor allem bis in die Abendstunden hineingeht und in der Nacht kaum jemand mehr kommt. Daher ist gut abzuwägen, wie man die knappe Ressource Arzt nutzt. Ich finde es schwierig, Parallelstrukturen aufzubauen und rate zu Pragmatismus.
Wie sähe der aus?
Muss der Arzt, der am gemeinsamen Notfalltresen sitzt und KV-Bereitschaftsdienst hat, wirklich in der Nacht, also zwischen 23 Uhr abends und 6 Uhr morgens vor Ort sein? Das kommt natürlich auch auf den Ort an. In Hamburg oder Berlin in zentralen Lagen ergibt das womöglich Sinn, ansonsten eher nicht.
Die Krankenkassen stöhnen über Milliardendefizite. Was könnte eine Notfallreform an Entlastung bringen, ohne die Versorgung zu verschlechtern!?
Ich komme mit meinem Team auf eine Nettoentlastung von fast fünf Milliarden Euro pro Jahr, wenn sich die Reform eingeschwungen hat. Dabei haben wir zunächst angenommen, dass die stationäre Aufnahmequote von derzeit 44 auf 30 Prozent gesenkt wird. Wir wissen aber aus anderen Ländern, dass eine stärkere Reduktion möglich ist, die ich auch langfristig für Deutschland als realistisch erachte.
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Eingeschwungen?
Man braucht sicher drei, vier Jahre, bis eine Notfallreform voll wirkt.
Wenn Sie diese Reform für unsere Leserinnen und Leser auf einem Bierdeckel skizzieren müssten – was stünde drauf?
Wir brauchen eine integrierte Leitstelle, erreichbar über eine Nummer. Diese muss ermächtigt sein, umfangreich zu steuern und nicht nur einen RTW rauszuschicken. Dafür braucht es eine Ersteinschätzung mit vorgeschalteten Algorithmen, mit Stimmerkennung usw. Hinter dem Disponenten „steht“ immer ein diensthabender Arzt oder eine diensthabende Ärztin, die sich eben bei besonderen Fällen dazuschalten kann – siehe Dänemark. Eine Anekdote dazu?
Gerne!
Der Sachverständigenrat war vor ein paar Jahren in Dänemark, wir haben natürlich auch Krankenhäuser besucht. Als wir in eine der Notaufnahmen in Kopenhagen kamen, war das Wartezentrum fast leer. Da saß eine Person drin. Wir haben den Leiter der Notaufnahme gefragt, warum sitzt hier nur eine Person?
Was hat er geantwortet?
Er sagte: Die Menschen in Dänemark wissen, dass sie hier lange warten müssen, wenn sie nicht vorher in der Leitstelle anrufen und einen Termin bekommen. Deswegen kommt hier niemand spontan her.
Herr Professor Schreyögg, wir bedanken uns für das Gespräch!