Reaktionen auf Triage-Urteil

Intensivmediziner: Den Richter am Krankenbett wollen wir Ärzte nicht

Das Bundesverfassungsgericht fordert gesetzliche Regelungen zur Corona-Triage. Behindertenverbände sind erfreut, die SPD-Fraktion sieht einen klaren Auftrag. Die Bundesärztekammer appelliert an die Politik, die Ärzteschaft in die Gesetzgebung einzubinden. Intensivmediziner jedoch warnen.

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Menschen mit schweren Behinderungen sollen in pandemiebedingten Triage-Situationen geschützt werden. Das hat das Bundesverfassungsgericht entschieden.

Menschen mit schweren Behinderungen sollen in pandemiebedingten Triage-Situationen geschützt werden. Das hat das Bundesverfassungsgericht entschieden.

© Torsten Sukrow / SULUPRESS.DE / picture alliance

Berlin. Das Bundesverfassungsgericht hat den Gesetzgeber beauftragt, den Schutz von Menschen mit schweren Behinderungen vor pandemiebedingten Triage-Situationen zu stärken. Jede Benachteiligung von Behinderten müsse verhindert werden, formulierte am Dienstag das Gericht mit Blick auf die Behindertenrechtskonvention.

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Während Behindertenverbände den Beschluss begrüßten, äußerten Intensivmediziner Sorge um die Unabhängigkeit ärztlicher Entscheidungen. Medizinische Vorschriften durch den Gesetzgeber würden die gesamte Medizin aushebeln, warnte Professor Uwe Janssens, Past Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), noch vor Bekanntwerden des Beschlusses.

Die Bundesärztekammer verwies auf ihre Orientierungshilfe aus aus dem Mai 2020. „Es verbieten sich Benachteiligungen aufgrund von Alter, Geschlecht, Nationalität, Behinderung oder sozialem Status“, heißt es dort. Die medizinische Indikation, der Patientenwille und die klinischen Erfolgsaussichten müssten zentrale Kriterien für Entscheidungen angesichts knapper Ressourcen sein.

Grundsätzlich müssten Allokationsentscheidungen immer ärztlich bleiben, heißt es in einer ersten Reaktion. Bundesärztekamerpräsident Dr. Klaus Reinhardt forderte den Gesetzgeber auf, die verfasste Ärzteschaft bei den nun zu schaffenden gesetzlichen Regelungen einzubinden.

DKG: Ärzte in moralisch-ethischem Dilemma

Die Deutsche Krankenhausgesellschaft nahm eine übergeordnete Prespektive ein: Das Urteil mache deutlich, wie wichtig es sei, eine maximale Belastung des Gesundheitswesens zu verhindern, heißt es in der Mitteilung der DKG. Es verdeutliche zudem die Verantwortung jedes Einzelnen, eine Überlastung der Kliniken zu verhindern.

Grundsätzliche Klarstellungen und Entscheidungshilfen könnten Ärztinnen und Ärzte bei der Arbeit vort Ort unterstützen und Rechtssicherheit geben, so die DKG. Es bleibe für für Ärzte das moralisch-ethische Dilemma, in Extremsituationen unter hohem Druck und in extremer Eile Priorisierungsentscheidungen treffen zu müssen.

In diese Richtung äußerte sich auch Gesundheitsminister Professor Karl Lauterbach (SPD). Es gehe darum, Triage durch Schutzmaßnahmen und Impfungen zu verhindern.

Die Kriterien der Behandlungsbedürftigkeit und der unmittelbaren Behandlungsprognose, also die Aussichten der Patienten, die aktuelle Erkrankung durch Intensivtherapie zu überleben, müssten mit aller in der konkreten Notsituation möglichen Sorgfalt abgewogen werden, sagte der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz Dr. Georg Bätzing. Hier könne der Gesetzgeber einen Handlungsrahmen definieren.

„Es kann und darf nicht sein, dass Medizinerinnen und Mediziner in einer so wichtigen Frage alleine gelassen werden“, betonte auch die Präsidentin des Sozialverbands VdK, Verena Bentele. Für die sogenannte Triage brauche es eine gesetzliche Grundlage.

SPD-Fraktion sieht klaren Auftrag

Eine Reaktion aus den Regierungsfraktionen erfolgte prompt. Die SPD-Fraktion im Bundestag sei froh über den Beschluss, sagte die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD-Fraktion, Dagmar Schmidt. Er sei nicht nur ein Auftrag zum gesetzgeberischen Handeln, sondern auch ein klares Signal an Menschen mit Behinderung.

Der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion, Dirk Wiese, sagte, das Gericht billige dem Gesetzgeber einen Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu. Diesem Auftrag sollte die Koalition zügig, aber mit der gebotenen Sorgfalt nachkommen. Das Verfassungsgericht habe festgestellt, dass Gwefahr bestehe, dass Behinderung stereotyp mit schlechten Genesungsaussichten verbunden werden könne, sagte die gesundheitspolitische Sprecherin der Fraktion Heike Baehrens. Konkret könnten die Sozialdemokraten sich dafür eine Regelung im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz vorstellen, ergänzte SPD-Rechtspolitiker Johannes Fechner.

Unmittelbar vor der Verkündung des Beschlusses hatte eine der Beschwerdeführerinnen ihre Sorge bekräftigt, Menschen mit schweren Behinderungen könnten in der Konkurrenz um ein Intensivbett benachteiligt werden, zum Beispiel wenn gleichzeitig ein ansonsten sportlich fitter Mensch mit einer Corona-Infektion eingeliefert werde.

Janssens: Behinderungen spielen keine Rolle

Diese Sorge der Beschwerdeführer mochte Intensivmediziner Professor Uwe Janssens nicht teilen. Eine der höchsten Prämissen einer medizinischen Behandlung sei die Gleichbehandlung, sagte der Past Präsident der DIVI am Dienstagvormittag im Deutschlandfunk.

Dabei spielten für die Ärzte Behinderungen keine Rolle. Gleichbehandlung bedeute aber auch, dass schwerste Begleiterkrankungen wie Herz- oder Nierenschwäche bei Nichtbehinderten und Behinderten gleichermaßen in die Beurteilung mit einbezogen werden müssten. Das sei ein „sehr komplexer Vorgang“. Es gebe kein Los- oder „first come, first serve“- Verfahren.

Der Blick richte sich auch nicht auf das Alter oder den sozialen Status, sagte der Chefarzt der Klinik für Innere Medizin und Internistische Intensivmedizin des St. Antonius-Hospitals in Eschweiler.

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Organspende als Blaupause

Er hoffe, dass der Gesetzgeber die Behandlungsteams in ihren Entscheidungen bestärke und unterstütze. Es sei allerdings unmöglich, dass der Gesetzgeber medizinische Vorschriften formuliere. „Das würde die gesamte Medizin aushebeln“, sagte Janssens. Und: „Dass wir den Richter mit am Bett sitzen haben, das wollen wir Ärzte und Ärztinnen sicher nicht“.

Bei der Organspende gebe es Regelungen, aufgrund derer nach „Dringlichkeit und Erfolgsaussicht“ bewertet werde. Hier gebe es Hinweise des Gesetzgebers und Handlungsempfehlungen der Bundesärztekammer.

Janssens betonte, dass auch der Corona-Impfstatus keinen Einfluss auf ärztliche Entscheidungen haben dürfe, wie dies von Juristen gefordert worden sei. Die DIVI habe dies in ihren ganz aktuell geänderten Empfehlungen ausgeschlossen.

„Niemand weiß, warum jemand eine Entscheidung gegen eine Impfung getroffen hat“, sagte der Intensivmediziner. Der Staat müsse zuvor dafür sorgen, dass die Beeinflussung von Menschen durch Fake News aufhöre. Ärzte könnten niemandem, der in die Irre geführt worden sei, eine Behandlung vorenthalten. (af)

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