Interview

Leitlinien-Autor: "Wir müssen völlig umdenken!"

Im Interview mit der "Ärzte Zeitung" erklärt Autor Professor Martin Scherer, was die neue Leitlinie bieten will – und was nicht.

Raimund SchmidVon Raimund Schmid Veröffentlicht:

Prof. Martin Scherer

  • Vizepräsident der DEGAM und Sprecher der ständigen Leitlinienkommission

  • Direktor des Instituts für Allgemeinmedizin am UKE Hamburg

Professor Martin Scherer: Erst einmal wurde lange bezweifelt, ob es überhaupt eine solche Leitlinie geben kann. Denn es geht ja zum einen um eine sehr heterogene Patientengruppe und zudem um zumeist viele Erkrankungen.

Mehr und mehr hat sich dann aber die Erkenntnis durchgesetzt, dass bei zu vielen Krankheiten die strikte Befolgung von krankheitsbezogenen Leitlinien mit ihren eindimensionalen Behandlungsstrategien nicht weiterführt. Wir brauchen gerade hier den Blick auf den ganzen Menschen. Und dafür haben wir diese Leitlinie entwickelt.

Wie schwierig war es, zu einem Konsens zu gelangen?

Scherer: Das war nicht schwierig, weil stets die inhaltlichen Punkte im Fokus standen und nicht berufs- oder standespolitisches Denken. Das Gremium, das auszahlreichen Allgemeinmedizinern, Geriatern und Internisten sowie Methodikern, einem Soziologen und einer Ernährungswissenschaftlerin zusammengesetzt war, hat sehr konstruktiv gearbeitet.

Das würde ich mir bei der Erstellung anderer Leitlinien oftmals auch so wünschen.

Was halten Sie den Kritikern entgegen, die die Leitlinie zu wenig konkret finden?

Scherer: Ich würde antworten, dass die Leitlinie keine falschen Erwartungen wecken darf. Sie beantwortet keine Detailfragen, sondern soll vielmehr das übergeordnete hausärztliche Denken strukturieren und damit erleichtern sowie bei der Priorisierung von Entscheidungen im hausärztlichen Alltag helfen.

Und in diesen Prozess fließt vieles ein, wozu wir in der Leitlinie – vom Beratungsanlass ausgehend – einen Meta-Algorithmus zur Versorgung von Patienten mit Multimorbidität entwickelt haben. Hier spielen zum Beispiel die gelebte Anamnese, die Patientenpräferenzen, Werte und Lebensziele oder etwa auch der psychosoziale familiäre Kontext eine ganz entscheidende Rolle.

Sollten sich nicht auch die Gebietsärzte eine solche Haltung stärker zu eigen machen?

Scherer: Auf jeden Fall, etwas Besseres könnte den Patienten gar nicht passieren. Viele werden aber unter den jetzigen Bedingungen schnell an zeitliche Grenzen kommen.

Brauchen wir neue Zeitfenster oder gar neue Zeitziffern zur Betreuung multimorbider Patienten?

Ja, natürlich brauchen wir das auch. Das hausärztliche Gespräch muss erheblich aufgewertet und besser bezahlt werden. Doch Geld und Ziffern allein bringen uns auch nicht entscheidend weiter. Noch wichtiger ist es, mit dieser Leitlinie ein gesellschaftliches Umdenken anzustoßen.

Wir müssen wegkommen von der einseitigen Ausrichtung auf die High-Tech-Medizin, die sich an der Zahl und Qualität ihrer technischen Geräte oder an der Anzahl von Operationen bemisst. Hier müssen wir in Zukunft völlig umdenken und ich hoffe natürlich, dass diese neue Leitlinie bei der Politik, den Leistungsträgern und auch in der Gesellschaft einen entsprechenden spürbaren Impuls auslösen kann.

Multimorbide Patienten, für die beim Hausarzt und darüber hinaus genügend Zeit vorhanden ist, müssen selbst hochbetagt keine Angst vor dem Alter haben. Das ist die politische Botschaft, die implizit in dieser Leitlinie steckt.

Lesen Sie dazu auch: Neue S3-Leitlinie: Neue Empfehlungen im Blick

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