Multidisziplinär arbeitende Teams statt fragmentierter Gesundheitsversorgung - ein Erfolgskonzept für Obama?

Mangelnde Effizienz, Ressourcenverschwendung, überflüssige Behandlungen? Schluss damit! Eine einflussreiche Beraterin von Präsident Barack Obama will das US-Gesundheitsssystem radikal verändern.

Christoph FuhrVon Christoph Fuhr Veröffentlicht:
Überzeugt, dass das US-Gesundheitssystem fundamental umgebaut werden muss: Professor Elizabeth Teisberg.

Überzeugt, dass das US-Gesundheitssystem fundamental umgebaut werden muss: Professor Elizabeth Teisberg.

© Foto: Michael Welß

Wie kann Gesundheitsversorgung der Zukunft im Idealfall aussehen? US-Präsident Barack Obamas Gesundheitsberaterin Professor Elizabeth Olmsted Teisberg hat jahrelang geforscht und ist dabei auch in Deutschland fündig geworden. Genauer gesagt: im Westdeutschen Kopfschmerzzentrum in Essen. Dort werden Patienten in einer Tagesklinik von Neurologen, Psychiatern und Physiotherapeuten betreut. Ein integriertes Versorgungskonzept, das beeindruckende Ergebnisse vorweisen kann.

"So funktioniert gute Versorgung im Team"

Der Anteil der Patienten, die wegen einer Migräneepisode mindestens sechs Tage ihrer Arbeit fernblieben, fiel nach sechs Monaten Behandlung von 58 auf elf Prozent. "Eine erstaunliche Verbesserung der Produktivität" lobte Teisberg jetzt beim Forum Gesundheitspiazza im österreichischen Bregenz. In Essen sei es einem multidisziplinär arbeitenden Team eindrucksvoll gelungen, Schmerzen zu verringern und Behandlungsabläufe aus Sicht des Patienten zu vereinfachen. "So", sagte die Professorin von der University of Virginia, "kann Versorgung im Team gut funktionieren".

Zusammen mit ihrem Kollegen Michael Porter hat die Wissenschaftlerin ein in den USA viel beachtetes Buch geschrieben, das von Beobachtern als Blaupause für angestrebte Gesundheitsreformen der Regierung Obama gesehen wird. Der Titel: "Redefining Health Care."

Das ganze System müsste neu aufgebaut werden.

Zu sehr, kritisiert die Präsidenten-Beraterin, seien Politiker im Gesundheitswesen immer noch auf absolute Kosten und Finanzierungssysteme fixiert. Zentrale Reformen müssten aber das Ziel haben, den Gesundheitszustand der Menschen zu verbessern - und das unabhängig von Entscheidungen in Kosten- und Finanzierungsfragen.

Den gesamten Therapiezyklus im Blick

Der Schlüssel für Versorgungsstrukturen der Zukunft sind aus Sicht von Teisberg multidisziplinär arbeitende Teams, vernetzte Behandlungseinheiten und eine koordinierte Versorgung über gesamte Behandlungszyklen. Viel zu stark sei Versorgung in vielen Industrieländern immer noch fragmentiert, es gebe zu viele überflüssige Mehrfachuntersuchungen, hinzu komme mangelnde Effizienz und Ressourcenverschwendung.

Die Konsequenz aus Sicht von Teisberg: eine strategische Neuausrichtung des Gesundheitssystems. Um Patientennutzen spürbar zu verbessern, erläutert sie, muss das System nach Krankheitsbildern und nicht nach historisch gewachsenen Fächern strukturiert werden. Diese Krankheitsbilder (etwa Diabetes oder KHK) müssten über den gesamten Behandlungszyklus erfasst und betrachtet werden. Dazu gehören etwa Prävention, Risikobewertung und Überwachung, Diagnose, Vorbereitung und Behandlung, Reha und Langzeitbehandlung von chronisch Kranken.

Teisberg setzt bei ihrem Konzept auf den Teamgedanken. Ihre Überlegung: Vom Spezialisten, der im Team arbeitet, wird ein Diabetespatient besser betreut als von mehreren spezialisierten, aber nicht vernetzten Kollegen.

Wettbewerb mit veränderten Vorzeichen

Ohne Wettbewerb geht auch in diesem veränderten System nichts. Aus Sicht von Teisberg hat Wettbewerb aber nur dann eine positive Wirkung, wenn er auf jener Ebene stattfindet, auf der tatsächlich ein Nutzen für den Patienten geschaffen wird - auf der unmittelbaren Versorgungsebene. Dringend erforderlich ist bei diesem Konzept deshalb eine risikobereinigte und transparente Ergebnismessung von Qualität und Behandlungskosten - differenziert nach Krankheitsbild und Ärzteteams. Damit werden Schwankungen bei der Versorgungsqualität deutlich, der Wettbewerb um Behandlungsqualität und Kosteneffizienz wird forciert. Die Verbreitung der Ergebnisse schaffe Lernanreize und erlaube die Identifikation erfolgreicher Behandlungsmethoden.

Transparenz schafft Lernanreize

Zugleich verändert sich in diesem System die Rolle der Krankenkassen. Statt über Risikoselektion oder möglichst niedrige Prämien zu konkurrieren, könnten sich Krankenversicherer dann über die Verbesserung der Behandlungsergebnisse ihrer Mitglieder messen.

Teisberg ist überzeugt, dass ihr Konzept auch auf europäische Versorgungssysteme übertragbar ist. Eine Analyse mit Blick auf Veränderungsoptionen in der Schweiz hat sie bereits gemacht.

In den USA gibt es bei der Umsetzung zusätzliche Probleme. Mehr als vierzig Millionen nicht versicherte Bürger haben keinen Zugang zu präventiver und früher Versorgung. Der einzige Zugang für wirklich alle ist die Notfallstation. Das bedeutet: späte Versorgung, fortgeschrittene Erkrankungen, hohe Kosten.

"Wer sparen will", sagt Teisberg, "sollte Prävention fördern und chronische Krankheiten in frühen Stadien unter Kontrolle bringen." Das kann allerdings nur funktionieren, wenn möglichst viele Menschen krankenversichert sind.

Eine Herkulesaufgabe, der sich Präsident Barack Obama stellen will. Ob es ihm allerdings gelingen wird, das ganze Versorgungssystem umzukrempeln? Am Rande der Gesundheitspiazza in Bregenz äußerten nicht wenige Kongressteilnehmer Zweifel.

Versichert, nicht versichert

84,7 % der US-Bürger haben laut US-Census Bureau eine Krankenversicherung, 15,3 % sind nicht versichert. Bei 59,3 % der Einwohner läuft die Versicherung über den Arbeitgeber. 8,9 % der Einwohner haben sich selbst versichert, 27,8 % sind durch ein Sozialprogramm der Regierung versichert (einige Bürger sind mehrfach versichert).

Eine staatliche Krankenversicherung gibt es nur für Menschen ab 65 (Medicare) und für wirtschaftlich Schwache (Medicaid). Für nicht Versicherte gilt: Kostenlose Behandlung gibt es nur in medizinischen Notfällen.

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