Notfallversorgung

Notaufnahmen einfach unterbesetzt?

Werden Notfallambulanzen der Krankenhäuser unnötig in Anspruch genommen? Und führen sie zu medizinisch nicht indizierten Hospitalisierungen? Das behaupten die KBV und etliche Gesundheitsökonomen. Notfallmediziner bestreiten das, sehen aber auch Reformbedarf.

Helmut LaschetVon Helmut Laschet Veröffentlicht:
Die Notfallversorgung soll reformiert werden. Die Ideallösung ist aber noch nicht gefunden.

Die Notfallversorgung soll reformiert werden. Die Ideallösung ist aber noch nicht gefunden.

© Friso Gentsch / dpa / picture alliance

Berlin. Die steigende direkte Inanspruchnahme von Krankenhaus-Notfallambulanzen hat den Gesetzgeber bewogen, eine grundlegende Reform der Notfallversorgung zu initiieren. Hinter dem Reformvorhaben stehen praktisch alle Interessenorganisationen der ambulanten Medizin, aber auch gewichtige Stimmen wie der Gesundheitssachverständigenrat und etliche Gesundheitsökonomen.

Notfallmediziner der Charité und des Uniklinikums Jena bezweifeln, ob die Rezepte – insbesondere die telefonische Ersteinschätzung durch SmED – die richtigen sind. Die Positionen von Experten waren bei einem digitalen Symposion des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi) kontrovers.

Hohe Hospitalisierungsquote hierzulande

Für den Berliner Gesundheitsökonomen Professor Reinhard Busse, ein Spezialist für den internationalen Vergleich von Gesundheitssystemen, ist der Befund klar: Von den rund 20 Millionen Behandlungsfällen in den Notaufnahmen der Kliniken sind 8,5 Millionen – das sind 43 Prozent – stationär aufgenommen worden.

Das sind fast so viele, wie von niedergelassenen Ärzten gezielt eingewiesen werden. In anderen Ländern liegt die Quote der Hospitalisierungen von Patienten in den Notfallambulanzen zwischen 22 und 33 Prozent.

Busse diagnostiziert eine Fehlallokation im deutschen Gesundheitswesen und nennt dafür mehrere Gründe:

  • Nichterreichbarkeit oder Nichtverfügbarkeit der ambulanten Versorgung: Dem könne begegnet werden mit einer Ausweitung der Sprechstundenzeiten durch Bildung leistungsfähiger Organisationen, beispielsweise MVZ mit langen Öffnungszeiten.
  • Fehlende Steuerung und Beratung von Patienten mit einem von ihnen subjektiv als Notfall bewerteten Gesundheitsproblem: Die Lösung kann eine qualifizierte strukturierte Ersteinschätzung sein, die über Risiko und Dringlichkeit entscheidet und den Patienten auf die geeignete Versorgungsebene steuert.
  • Zu viele Notfallambulanzen, die personell und technisch schlecht ausgerüstet sind und daher zu einer an sich nicht notwendigen Hospitalisierung neigen – nicht zuletzt auch aufgrund des ökonomischen Drucks, nicht ausgelastete Betten zu belegen: Eine Reform müsste die Zahl der Notfallambulanzen verringern, deren Qualität und Ausstattung aber deutlich verbessern.

Zu klein, zu wenig Mitarbeiter

Dem setzen die Notfallmediziner Professor Martin Möckel von der Charité in Berlin und Professor Wilhelm Behringer vom Uniklinikum Jena entgegen, dass die zentralen Notaufnahmen keineswegs überlaufen sind, sie seien nur zu klein und hätten zu wenig Mitarbeiter.

Dezidiert weist Behringer darauf hin, dass Instrumente zur Ersteinschätzung hinsichtlich ihres langfristigen medizinischen Outcomes nicht hinlänglich validiert sind. Und er verweist auf Untersuchungen, die zeigen, dass die Prävalenzen von ernsthaften Risiken bei identischen Symptomen völlig unterschiedlich seien: Das Symptom Brustschmerz werde von Hausärzten in 3,6 Prozent der Fälle als Risiko für ein akutes Koronarsyndrom bewertet, von zentralen Notaufnahmen jedoch zu 25 Prozent.

Notaufnahmen sollten eigenständig arbeiten können

Behringer zieht daraus den Schluss, dass Patienten, die die Notfallaufnahme in Anspruch nehmen, zunächst auch von kompetenten Notfallmedizinern beurteilt werden müssen. Notfallzentren sollten als eigenständige und sektorenunabhängige Einrichtungen mit kostendeckender Finanzierung organisiert werden.

Ähnlich sieht das sein Kollege Möckel von der Charité. Überfüllung und Überforderung der Notaufnahmen seien eine gefährliche Realität. Ursächlich dafür seien aber eine veränderte Morbidität – insbesondere Patienten mit mehrfachen chronischen Krankheiten –, die Nichtverfügbarkeit ambulanter Medizin auch während der Öffnungszeit der Praxen sowie Erwartungen von Patienten an eine bessere oder schnellere Diagnostik im Krankenhaus.

Die Notaufnahmen seien unterfinanziert und nicht ausreichend mit Personal und Technik ausgestattet und – wie der Charité-Neubau in Berlin-Mitte – von vornherein unterdimensioniert und nicht nach medizinischem Bedarf geplant.

Nicht die Hälfte, der Patienten, wie oft falsch zitiert werde, schätze ihren Versorgungsbedarf als nicht dringlich ein, sondern weniger als zehn Prozent. Und die Charité generiere nur 30 Prozent ihrer stationären Patienten über die Zentrale Notaufnahme; das entspreche etwa internationalen Standards.

Hoffnungsschimmer IVENA

Eine Verbesserung der Notfallversorgung erwartet Möckel aufgrund des Einsatzes von IVENA, dem seit rund zwei Jahren verfügbaren „Interdisziplinären Versorgungsnachweis“.

Mit diesem digitalen Werkzeug können Rettungsdienste in Echtzeit verfügbare Krankenhauskapazitäten feststellen und Notfallpatienten dorthin transportieren, wo eine unverzügliche Versorgung gesichert ist.

Aber immer noch existierten keine digitalen Schnittstellen für die Übermittlung von Befund- und Behandlungsdaten des Rettungsdienstes zur Notaufnahme. Die kommunikationstechnische Steinzeit perpetuiert: Digitale Daten werden als PDF formatiert, ausgedruckt, eingescannt, digitalisiert.

Ihr Newsletter zum Thema
Mehr zum Thema

Anhörung im Bundesgesundheitsministerium

Versuch einer Reform der Notfallversorgung, der dritte!

Das könnte Sie auch interessieren
Der Gesundheitsdialog

© Janssen-Cilag GmbH

J&J Open House

Der Gesundheitsdialog

Kooperation | In Kooperation mit: Johnson & Johnson Innovative Medicine (Janssen-Cilag GmbH)
Impulse für den medizinischen Fortschritt: Welches Mindset braucht Deutschland?

© Springer Medizin

Johnson & Johnson Open House-Veranstaltung am 26. Juni 2025 beim Hauptstadtkongress

Impulse für den medizinischen Fortschritt: Welches Mindset braucht Deutschland?

Kooperation | In Kooperation mit: Johnson & Johnson Innovative Medicine (Janssen-Cilag GmbH)
J&J Open House beim Hauptstadtkongress

© [M] Springer Medizin Verlag

Video zur Veranstaltung

J&J Open House beim Hauptstadtkongress

Kooperation | In Kooperation mit: Johnson & Johnson Innovative Medicine (Janssen-Cilag GmbH)
Innovationsforum für privatärztliche Medizin

© Tag der privatmedizin

Tag der Privatmedizin 2025

Innovationsforum für privatärztliche Medizin

Kooperation | In Kooperation mit: Tag der Privatmedizin
Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer und Vizepräsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe, hofft, dass das BMG mit der Prüfung des Kompromisses zur GOÄneu im Herbst durch ist (Archivbild).

© picture alliance / Jörg Carstensen | Joerg Carstensen

Novelle der Gebührenordnung für Ärzte

BÄK-Präsident Reinhardt: Die GOÄneu könnte 2027 kommen

Kommentare
Sonderberichte zum Thema
Mehr als ein oberflächlicher Eingriff: Die Krankenhausreform verändert auch an der Schnittstelle ambulant-stationär eine ganze Menge.

© Tobilander / stock.adobe.com

Folgen der Krankenhausreform für niedergelassene Ärztinnen und Ärzte

Die Klinikreform bringt Bewegung an der Schnittstelle zwischen Praxen und Krankenhäusern

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: der Deutschen Apotheker- und Ärztbank (apoBank)
Dr. med. Gerhard M. Sontheimer (ANregiomed, Region Ansbach) und Holger Baumann (Kliniken der Stadt Köln, v.l.) haben in der Praxis gute Erfahrungen mit Systempartnerschaften gemacht.

© Philips

Mehr Spielraum für moderne Prozesse in der Klinik

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: Philips GmbH Market DACH, Hamburg
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Jetzt neu jeden Montag: Der Newsletter „Allgemeinmedizin“ mit praxisnahen Berichten, Tipps und relevanten Neuigkeiten aus dem Spektrum der internistischen und hausärztlichen Medizin.

Top-Thema: Erhalten Sie besonders wichtige und praxisrelevante Beiträge und News direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen

Interview

Wie Ärzte in Stresssituationen richtig reagieren können

Verschmutzte Luft

Was Reinigungsmittel in der Lunge anrichten können

Krebs in Deutschland

Bei zwei Krebsarten nahm die Sterblichkeit am stärksten ab

Lesetipps
Serotoninkristalle, die ein Muster ergeben.

© Michael W. Davidson / Science Photo Library

Für wen passt was?

Therapie mit Antidepressiva: Auf die Nebenwirkungen kommt es an

Eine junge Frau fasst sich an ihren schmerzenden Ellenbogen.

© Rabizo Anatolii / stock.adobe.com

Laterale Ellbogenschmerzen

Diese sechs Kriterien sprechen gegen einen „Tennisarm“