Großbritannien

Schneller Hausarzt-Termin ist mehr Wunsch als Wirklichkeit

An lange Wartezeiten auf einen Facharzttermin oder für eine Operation sind Briten seit langem gewöhnt. Doch offenbar hat die Sparpolitik der Regierung Cameron sogar dazu geführt, dass Patienten auch für Termine beim Hausarzt viel Geduld brauchen.

Arndt StrieglerVon Arndt Striegler Veröffentlicht:

LONDON. Mehr als zehn Millionen Patienten in Großbritannien haben Probleme, zeitnah eine Konsultation bei ihrem Hausarzt zu bekommen. Das geht aus neuen Zahlen hervor, die für gesundheitspolitische Schlagzeilen sorgen.

Schlagzeilen gibt es deshalb, weil die offenbar immer schlimmer werdenden Versorgungsengpässe im hausärztlichen Sektor relativ neu sind für ein Land, das seit Jahrzehnten auf eine staatliche Gesundheitsfürsorge setzt.

Beobachter sehen einen direkten Zusammenhang zwischen der als Folge der Finanzkrise strikten Sparpolitik der Regierung Cameron im Gesundheitswesen und den Versorgungsengpässen.

Wie aus aktuellen Zahlen hervor geht, wartet inzwischen jeder fünfte britische Patient eine Woche oder länger auf eine Unterredung mit dem Hausarzt.

In Städten ist die Lage offenbar schlechter als auf dem Land, was neu ist und bedeutet, dass ein langjähriger Trend zur Ausdünnung der ländlichen primärärztlichen Versorgungsangebote im Begriff ist, sich umzudrehen, indem jetzt auch die großen Städte leiden.

Was noch bedenklicher ist: immer öfter kommt es offenbar vor, dass Patienten des staatlichen Gesundheitsdienstes (National Health Service, NHS) überhaupt keine hausärztliche Konsultation bekommen, weil die Kapazitäten fehlen.

"So etwas wäre vor zehn Jahren schlicht undenkbar gewesen", kommentierte eine Sprecherin des britischen Ärztebundes (British Medical Association, BMA) die Lage.

Immer mehr Probleme auch in Städten

Recherchen der "Ärzte Zeitung" ergaben, dass NHS-Patienten zum Beispiel in der südostenglischen Stadt Norwich mittlerweile oft statt zum Hausarzt direkt zur Notfallstation des örtlichen Krankenhauses gehen, weil Norwicher Hausarztpraxen keine neuen Patienten mehr annehmen.

Mindestens acht Hausarztpraxen in der mittelgroßen Kreisstadt weigern sich, neue Patienten anzunehmen. Man habe keine freien Kapazitäten, wurde zum Beispiel einem 55-Jährigen Patienten, mit dem die "Ärzte Zeitung" sprach, gesagt. "Das war alles sehr frustrierend und besorgniserregend", so Patient Guy Irwin.

"Ich bin kürzlich von London nach Norwich gezogen und brauchte natürlich einen örtlichen Hausarzt. Ich habe bei vier Praxen angefragt, keine war bereit, mich aufzunehmen. Ich bin geschockt!"

Die Praxen liegen zwar alle im unmittelbaren Umkreis des Wohnortes des Patienten, sind daher eigentlich verpflichtet, einen Patienten wie den 55-Jährigen anzunehmen.

Doch sie weigern sich. Das ist offenbar keine Ausnahme und ärztliche Berufsorganisationen und Patientenverbände berichten ähnliches aus anderen Teilen Großbritanniens.

Staatliches Gesundheitswesen seit 1948

Bislang beschränkten sich die Engpässe im NHS zumeist auf den stationären Sektor und die Fachärzte. Da Großbritannien seit 1948 ein auf dem primärärztlichen Versorgungsmodell aufbauendes staatliches Gesundheitswesen hat, praktizieren die Fachärzte für gewöhnlich an den Kliniken.

Der Zugang zu diesen Leistungen erfolgt stets über den Hausarzt, der in Großbritannien eine wichtige Schlüsselfunktion hat. Deshalb sind die jetzt auftretenden Versorgungsengpässe besonders alarmierend.

Gesundheitspolitische Beobachter sehen einen kausalen Zusammenhang mit immer weitreichenderen Sparmaßnahmen der Regierung Cameron.

Erst Anfang April hatte Schatzkanzler George Osborne für das laufende Haushaltsjahr und die kommenden Jahre Milliardeneinsparungen in den öffentlichen Haushalten angekündigt.

Zwar hat Premierminister David Cameron versprochen, den Gesundheitsetat weitgehend von diesen Kürzungen auszuklammern.

Freilich: die Realität sieht vielerorts anders aus und immer mehr lokale Gesundheitsverwaltungen und Hausarzt-Praxisgruppen geraten laut Medienberichten in eine gefährliche finanzielle Schieflage. Erschwerend kommt hinzu, dass die Nachfrage nach hausärztlichen Konsultation seit Jahren steigt. Das hängt nicht zuletzt mit einer älter werdenden Bevölkerung und Einwanderung zusammen.

Landesweit fehlen Hausärzte

Laut BMA fehlen landesweit "tausende Hausärzte". Die BMA wirft der Regierung eine "verfehlte Gesundheitspolitik" vor, die an den Bedürfnissen der Patienten vorbei gehe.

Konkret kritisiert der Ärztebund, dass Cameron beispielsweise versprach, bis zum Jahr 2020 dafür sorgen zu wollen, dass Patienten sieben Tage pro Woche Zugang zu hausärztlichen Versorgungsangeboten haben.

Das ist laut BMA "illusorisch" und werde lediglich dazu führen, dass Praxen mit Tricks wie ausgedehnten Mittagszeiten, zu denen geschlossen ist, versuchen werden, pro Forma 24 Stunden am Tag für Patienten da zu sein.

Gespräche mit britischen Hausärzten zeigen immer wieder, unter welch' starkem Druck viele Kollegen gerade in den großen Städten wie London, Liverpool und Manchester stehen.

"Es wird immer mehr von uns verlangt, aber gleichzeitig werden die Mittel gekürzt", so ein Londoner Hausarzt zur "Ärzte Zeitung".

Der Arzt bat um Anonymität. Patientenverbände verlangen von der Regierung eine unverzügliche gesundheitspolitische Kehrtwende hin zur Stärkung des primärärztlichen Sektors.

"Die Patientenversorgung leidet bereits und das wird ohne eine Kehrtwende der Regierung noch schlimmer werden", so eine Sprecherin der Patient Association (PA) in London.

Fazit: Nachdem es jahrzehntelang in Großbritannien vor allem im stationären und fachärztlichen Sektor Engpässe gegeben hat, sind jetzt zunehmend auch die Hausarztpraxen betroffen.

Die Unzufriedenheit bei Ärzten und Patienten wächst.

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